„Medizinischer Notstand“

Niemegk: Bevölkerung demonstriert für Apotheke

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Berlin -

Der Streit um die geschlossene Apotheke im brandenburgischen Niemegk hat die nächste Eskalationsstufe erreicht: Am Montag demonstrierten rund 100 Bürger für eine bessere medizinische Versorgung in ihrer Gemeinde. Denn nach der Apotheke war auch eine von zwei Ärztinnen im Ort Hals über Kopf verschwunden. Seitdem herrscht „medizinischer Notstand in Niemegk“, sagt Gabriele Eissenberger, die den Protest im Eiltempo organisiert hat. Auf die Apothekerkammer ist sie dabei nicht gut zu sprechen.

„Abgehängt, vergessen“, stand auf den Plakaten, die die Demonstranten am Montagmittag durch Niemegk trugen, oder: „30 Jahre blühende Landschaften: Keine Apotheke, kein Arzt!“ Die Poster sind das Werk von Gabriele Eissenberger, die im nahegelegenen Garrey eine Pension betreibt. Auch wenn sie „stramm auf die 70 zugeht“, wie sie es selbst ausdrückt, war die Situation bis vor kurzem noch erträglich, schließlich war sie dank ihres Autos mobil und half auch ihren Mitbürgern. „Dadurch war ich für viele Ältere hier im Ort die Chauffeurin.“ Doch ein Unfall änderte das. Eissenberger zog sich einen komplizierten Knochenbruch im Arm zu und konnte fortan nicht mehr Auto fahren. „Als ich dann wegfiel, eskalierte die Situation. Da wurde mir klar, wie schwer es für diejenigen ist, die kein eigenes Auto haben. Die sind in diesem hübschen Dorf gefangen.“

Denn seit Inhaberin Astrid Berger Ende April nach vierjähriger erfolgloser Nachfolgersuche ihre Robert-Koch-Apotheke geschlossen hat, ist Niemegk ohne Apotheke. Erschwerend kommt hinzu, dass der Ort zwar formell eine Stadt ist, de facto aber aus 23 zusammengeschlossenen Dörfern im Umland besteht. Die Fahrt aus einem der Dörfer zur nächsten Apotheke ist deshalb oft nur über Umwege möglich und zieht sich entsprechend oft über eine gefühlte Ewigkeit – wenn überhaupt ein Bus kommt. Mittlerweile hat der Ort zwar einen Rezeptkasten. „Doch selbst der musste hart erkämpft werden, weil sich die Apothekerkammer quergestellt hat“, sagt Eissenberger und lacht bitter drauf los. „Da soll doch der Blitz einschlagen!“

Tatsächlich hatte die Landesapothekerkammer die Einrichtung einer Rezeptsammelstelle erst verweigert. Denn von Niemegk aus fährt auch mehrmals täglich ein Bus in die 12 und 18 Kilometer entfernten Nachbarorte Treuenbrietzen und Bad Belzig. Mehr als die von der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) vorgeschriebenen sechs Kilometer bis zur nächsten Apotheke sind es damit zwar allemal. Allerdings können die Kammern auch zusätzliche Regeln definieren, die der Errichtung einer Rezeptsammelstelle entgegenstehen. Und um einen solchen Fall handelte es sich: Laut Kammer liegen die Voraussetzungen für eine Rezeptsammelstelle nicht vor, wenn die nächste Apotheke von Montag bis Freitag mindestens einmal täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb einer Stunde – einfache Wegstrecke – erreicht werden kann.

Für die Anwohner und die Verwaltung vor Ort war das weltfremd gedacht. „Unsere Gemeindefläche ist größer als die von Potsdam“, erklärt Amtsleiter Thomas Hemmerling – und nicht jeder Bürger habe die Bushaltestelle direkt vor der Haustür. Mit Wegen zu den Haltestellen, Wartezeiten und Umwegen über andere Dörfer werde die Fahrt in die Apotheke damit zur Tagesreise. Erst durch den Einsatz von Apothekerin Anja Aepler, Inhaberin der Flamingo-Apotheke im 20 Kilometer entfernten Straach, kam der Rezeptkasten dann doch zustande. Sie legte Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid ein, woraufhin die Kammer die Gegebenheiten vor Ort prüfte und zum Schluss gelangte, „dass eine Abweichung von diesen Kriterien in diesem Fall gerechtfertigt ist“.

Doch da stand die nächste Hiobsbotschaft bereits ins Haus: Eine der beiden Ärzte im Ort verschwand Ende September buchstäblich über Nacht. „Da wurden am Freitag noch Termine gemacht und am Montag war die Praxis eiskalt geschlossen“, erzählt Eissenberger. „Da standen 20 Patienten vor der Tür und wussten nicht, was sie tun sollten.“ Denn die Ärztin ist Angestellte eines MVZ in Bad Belzig – und das hatte kurzfristig beschlossen, sie dorthin zu holen und aus Niemegk abzuziehen. „Die Ärztin hatte auch keine Wahl, die hat ja einen Vertrag mit dem MVZ“, sagt Eissenberger. Einigen der enttäuschten Patienten wurde es daraufhin zu bunt. „Einer von denen hat sich ins Auto gesetzt und ist nach Bad Belzig gefahren“, erzählt Eissenberger. „Der stand dann dort im MVZ und hat ihr mit Nachdruck gesagt, dass sie jetzt gefälligst mit nach Niemegk kommt und sich um die wartenden Patienten kümmert.“ Und tatsächlich: Die Ärztin kam und behandelte zumindest diejenigen, die an dem Tag einen Termin hatten. „Zu solchen Methoden muss man hier schon greifen“, sagt Eissenberger. Doch das schaffte natürlich nur kurzzeitig Abhilfe. Die Versorgungssituation in Niemegk ist seit dem Weggang der Ärztin prekär. Die übrig gebliebene Praxis nimmt auch keine Patienten mehr auf.

„Ich selbst war dann auch ohne behandelnden Arzt. Da steht man da und braucht etwas, aber nichts ist mehr da“, erzählt Eissenberger. Also reichte es ihr. Etwas musste getan werden. Aus der Hüfte heraus stellte sie eine Demo auf die Beine. Vergangenen Mittwoch begann sie mit den Vorbereitungen: Sie schrieb einen Flyer, den sie über Bekannte und andere Multiplikatoren verteilen ließ. Darauf erinnert sie ihre Mitbürger an die Schließung von Apotheke und Praxis sowie die „grottenschlechten“ Busverbindungen, „die in den Schulferien nicht existieren“, so der Flyer. „Wir fordern die entsprechenden Stellen auf, umgehend alles zu unternehmen, damit dieser Notstand ein Ende hat. Bald.“

Und tatsächlich: Wohl nicht zuletzt, weil Eissenberger als Ortsbeiratsabgeordnete und Gemeinderatsabgeordnete über ein entsprechendes Netzwerk verfügt, erreichte die Botschaft auch ihre Adressaten. „Da habe ich wohl einen Nerv getroffen“, sagt sie. „Es waren über 100 Leute da, was für so einen kleinen Ort wirklich viel ist.“ Angenehm überrascht sei sie auch von der Teilnahme vieler Funktionsträger gewesen, vom Niemegker Bürgermeister und Amtsleiter bis zu den Bürgermeistern von Nachbargemeinden. „Vor allem aber hat mir gefallen, dass sich daraus ein Bürgergespräch entwickelt hat, bei dem jeder das Mikro nehmen und sagen konnte, was ihm unter den Nägeln brennt.“ Dabei sei ihr besonders der Vortrag eines älteren Herrn nahe gegangen. „Er stand da und hat mit zitternder Stimme beschrieben, was er mit seiner Frau im Rollstuhl alles durchmacht, wenn sie zum Arzt muss“, erzählt sie. „Das hätte jeder von diesen Leuten in irgendwelchen Gremien mal sehen sollen!“

Selbst das Fernsehen machte sie mit ihrem Protest auf sich aufmerksam. Der RBB sendete einen Beitrag in „Brandenburg Aktuell“. Eissenberger hofft nun, dass die Öffentlichkeit bei ihrem Anliegen behilflich ist. „Wir wollen nicht nur zeigen, dass wir gegen die jetzige Situation sind, sondern vor allem wollen wir überall vermitteln, dass wir auf der Suche nach Apothekern und Ärzten für den Ort sind.“ Dabei habe sie die volle Unterstützung des Amtes: Das habe sich bereit erklärt, in die Presche zu springen, wenn Verhandlungen mit der ehemaligen Inhaberin der Koch-Apotheke scheitern sollten. Es sei bereit, einen Standort im Ortskern für eine mögliche Apotheke bereitzustellen.

Das Problem gehe jedoch viel tiefer. Eissenberger stellt auch an die Landespolitik die Forderung, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. „Es gibt viel zu wenige Ausbildungsplätze für Apotheker, da müssen unbedingt mehr geschaffen werden“, sagt sie. „Jemand, der im Schwabenland Pharmazie studiert, kommt doch nicht nach Brandenburg, um zu arbeiten.“ Tatsächlich zieht sich die Debatte um die Einrichtung eines pharmazeutischen Instituts in Brandenburg seit Jahren hin. Doch Eissenberger geht noch weiter: Sie fordert Ausnahmeregelungen für Apotheken in ländlichen Regionen, um ihnen Eröffnung und Betrieb zu vereinfachen. So solle man doch überlegen, ob man unter solchen Umständen nicht die Regelung etwas aufweichen könne, dass immer ein Apotheker vor Ort sein muss. Vor allem seit die letzte Drogerie in Niemegk geschlossen hat, seien die Leute schließlich auch für kleinere Dinge wie Pflaster in die Apotheke gegangen – und dazu brauche es keinen Apotheker. Die Haltung der Kammer, sich unter Verweis auf strikte Regeln querzustellen, sei jedenfalls nicht ganz unschuldig an der Situation, sagt Eissenberger. „Wenn die Apotheker nicht wollen, dass wir bei DocMorris bestellen, dann müssen sie auch dafür sorgen, dass wir mit Apotheken vor Ort versorgt sind.“

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