Nicht angezeigte Importe

Gericht bestätigt 375.000-Euro-Retax

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Berlin -

Das Urteil ist auf den ersten Blick unspektakulär: 723,67 Euro muss ein Apotheker an die AOK Bayern zurückzahlen, entschied das Landessozialgericht München (LSG) im November. Doch dabei handelt es sich nur um den Restbetrag noch nicht verrechneter Retaxationen in Höhe von nach 375.000 Euro. Die sind aus Sicht des Gerichts berechtigt, weil der Apotheker jahrelang in Zytostatika-Rezepturen in Deutschland nicht zugelassene Stoffe verwendet hatte.

Es geht um Zyto-Rezepturen aus den Jahren 2003 bis 2007. In mindestens 381 Fällen hatte der Apotheker rund 40 verschiedene importierte Wirkstoffe ohne deutsche Kennzeichnung verwendet. Bestimmt waren die Stoffe für Griechenland, Portugal, Polen und andere europäische Länder, aber teilweise auch für Bangladesch, Indien, Iran oder Oman. Wirkstoffgleiche Präparate mit deutscher Kennzeichnung hätten jeweils zur Verfügung gestanden – aber zu höheren Preisen.

Gegenüber den Krankenkassen rechnete der Apotheker jeweils nach den Preisen der Hilfstaxe mit der Pharmazentralnummer 9999092 für Rezepturarzneimittel ab. Für die Kasse war damit seinerzeit nicht ersichtlich, ob auch die verwendeten Fertigarzneimittel eine PZN für in Deutschland zugelassene Arzneimittel hatten; die Abrechnung wurde zunächst beglichen.

Doch seit 2007 liefen polizeiliche Ermittlungen gegen den Apotheker. Laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft belief sich die Summe der fraglichen Abrechnungen auf mehr als 1,1 Millionen Euro. Die AOK Bayern hatte ihrerseits im Herbst 2010 Klage beim Sozialgericht München (SG) erhoben, um die Verjährung der eigenen Ansprüche zu unterbrechen. Sie selbst habe erst Mitte 2007 aufgrund der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von dem Sachverhalt erfahren. Von Januar 2012 bis Juli 2013 wurden in der Folge monatlich jeweils 20.000 Euro als Schadensersatz für die Jahre 2004 bis 2007 mit laufenden Abrechnungen verrechnet, insgesamt 374.275,96 Euro mit einem offenen Restbetrag von 723,67 Euro.

Das Sozialgericht hatte die Klage der Kasse und Widerklage des Apothekers zunächst bis zum Abschluss des Strafverfahrens ausgesetzt. Dieses wurde vom Landgericht München II im Frühjahr 2015 allerdings eingestellt. Denn zwischenzeitlich hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in ähnlich gleichgelagerten Fällen entschieden, dass die Zubereitung von Zytostatika als Rezepturherstellung zu sehen sei. Bei der Abgabe und Abrechnung eines Rezepturarzneimittels müsse die Verwendung des konkreten Konzentrats nicht genannt wurde. Und die Vorwürfe nach dem Arzneimittelgesetz seien verjährt.

Das Verfahren vor dem Sozialgericht wurde dennoch wieder aufgenommen, die Kasse sah ihren Schadensersatzanspruch als gegeben an. Denn für importierte Arzneimittel müsse sie nicht zahlen, da die Voraussetzungen für Einzelimporte nicht vorlägen. Die Apotheke habe nur Präparate mit deutscher PZN verwenden und abrechnen dürfen. Nachdem das Sozialgericht im Juli 2019 in erster Instanz zu Gunsten des Apothekers entschieden hatte, ging die Kasse in Berufung.

Die AOK bezieht sich ihrerseits auf das Bundessozialgericht. Nach dessen Rechtsprechung dürften Fertig- oder Rezepturarzneimittel nur im Ausnahmefall zu Lasten der GKV importiert werden. Zur fraglichen Zeit sei zudem eine Preisverhandlung im Einzelfall üblich gewesen, hier aber nicht erfolgt. Die Apotheke habe die Kasse vielmehr bewusst im Unklaren gelassen. Ansonsten hätte man die Rezepturarzneimittel auch nicht zur Behandlung der Versicherten abgenommen und auch nicht vergütet, trug die Kasse vor. Der Apotheker hatte wiederum auf ein Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen verwiesen, welches in einem ähnlich gelagerten Fall keinen Rückerstattungsanspruch der Kasse gesehen hatte.

Das LSG München gab der AOK recht. Die Retaxationen für die Jahre 2004 bis 2007 seien berechtigt, weil die Apotheke gegen vertragliche Nebenpflichten verstoßen habe. „Der Schaden ist in Höhe der Gesamtvergütung entstanden.“ Die Apotheke habe „in der Masse und auf Vorrat importiert“ und dabei über keine Ausnahmegenehmigung für den Import von Arzneimitteln verfügt, die keine deutsche PZN hatten. Darüber sei die Kasse zu keinem Zeitpunkt informiert worden.

Das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ohne Zulassung für den deutschen Markt sei aus arzneimittelsicherheitsrechtlichen Gründen unzulässig, so das LSG weiter. Der Apotheker habe sich eine rechtliche Unsicherheit zu seinem eigenen „ganz wesentlichen finanziellen Vorteil zu Nutze gemacht“. Immerhin sei es zu keinem Schaden der Versicherten gekommen, da es sich um wirkstoffgleiche Arzneimittel gehandelt habe. Die Pflichtverletzung der Apotheke bestand darin, die Abgabe dieser Arzneimittel nicht kommuniziert zu haben. Dass das LSG zu einem anderen Ergebnis kommt als der Strafprozess, ist aus Sicht der Richter nichts Ungewöhnliches.

Die Retax in voller Höhe ist aus Sicht der Richter angemessen. Denn die AOK hätte ihre Versicherten nicht mit Zytostatikalösungen des Apothekers versorgt, wenn sie von dem Sachverhalt Kenntnis gehabt hätte, so die Begründung. Die Rückforderungen seien auch nicht verjährt, weil die 4-jährige Verjährungsfrist erst mit Möglichkeit der Kenntnisnahme der Kasse begonnen habe.

Schlussstrich: Der Kasse stehen weitere bisher nicht aufgerechnete 723, 67 Euro zu. Sie muss allerdings einen Teil der Verfahrenskosten tragen, weil sie ihre Klage auf Ansprüche in Höhe von knapp 70.000 Euro für das Jahr 2003 zurückgezogen hatte. Revision hat das LSG nicht zugelassen.

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