Importe verarbeitet

BSG muss über Rezeptur-Retax entscheiden

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Berlin -

Eine unklare Rechtslage, widersprüchliche Aussagen und die Aussicht auf massenhafte Retaxationen – bei Rezepturen sind die Apotheken seit der Kündigung der Hilfstaxe durch den Deutschen Apothekerverband (DAV) auf sich alleine gestellt. In einem etwas anders gelagerten Fall wird sich das Bundessozialgericht (BSG) Ende Februar mit der Frage beschäftigen, ob Kassen individuelle Zubereitungen auf Null retaxieren können, wenn Apotheken nicht komplett transparent abgerechnet haben.

Vor mittlerweile 15 Jahren sorgte die sogenannte Holmsland-Affäre für Schlagzeilen: Zyto-Apotheken hatten über Zwischenhändler mit Sitz in Dänemark beziehungsweise auf der Isle of Man teure Krebsmedikamente importiert und in Sterilrezepturen verarbeitet. Gegenüber den Kassen rechneten sie so ab, als ob die deutschen Originalpräparate verarbeitet worden wären. Strafrechtlich kamen die Inhaberinnen und Inhaber davon, doch jetzt muss das BSG entscheiden, ob die Abrechnung beanstandet werden kann.

Import verarbeitet, PZN taxiert

Eine ehemalige Inhaberin aus Bayern hatte zwischen 2003 und 2007 in mindestens 381 Fällen Wirkstoffe ohne deutsche Kennzeichnung in Sterilrezepturen verarbeitet. Rund 40 verschiedene Wirkstoffe waren betroffen, die über ein Netzwerk verschiedene Zwischenhändler importiert wurden, obwohl sie eigentlich für Griechenland, Portugal, Polen und andere europäische Länder bestimmt waren, teilweise auch für Bangladesch, Indien, Iran oder Oman. Wirkstoffgleiche Fertigarzneimittel mit deutscher Kennzeichnung hätten zwar zur Verfügung gestanden – aber zu höheren Preisen.

Gegenüber den Krankenkassen rechnete die Apothekerin jeweils nach den Preisen der Hilfstaxe mit der Pharmazentralnummer 9999092 für Rezepturarzneimittel ab. Dabei verwendete sie PZN und Preise der deutschen Fertigarzneimittel. Für die Kassen war damit seinerzeit nicht ersichtlich, dass die ausgewiesenen deutschen Präparate gar nicht verwendet worden waren; die Abrechnungen wurden zunächst beglichen.

Doch seit 2007 liefen polizeiliche Ermittlungen gegen die Apothekerin. Laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft belief sich die Summe der fraglichen Abrechnungen bei allen Kassen auf mehr als 1,1 Millionen Euro. Auch die AOK Bayern erfuhr dadurch von der Sache und erhob Klage beim Sozialgericht München (SG). Zwischen Januar 2012 und Juli 2013 wurden insgesamt 374.275,96 Euro retaxiert und verrechnet.

Irrtum schützt vor Strafe

Im Frühjahr 2015 wurde das Strafverfahren gegen die Apothekerin vom Landgericht München II eingestellt. Zuvor hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in ähnlich gelagerten Fällen entschieden, dass die Zubereitung von Zytostatika als Rezepturherstellung zu sehen sei, bei der die Verwendung des konkreten Konzentrats nicht genannt werden müsse. Auch vom Vorwurf des Betrugs wurden die beteiligten Apothekerinnen und Apotheker freigesprochen, weil sie sich möglicherweise in der Einschätzung der Rechtslage schlicht geirrt hätten.

Die AOK Bayern pochte dennoch im vorliegenden Fall auf ihren Schadensersatzanspruch. Denn für importierte Arzneimittel müsse sie nicht zahlen, da die Voraussetzungen für Einzelimporte nicht vorlägen – nach Rechtsprechung des BSG seien diese nur im Ausnahmefall erlaubt. Zur fraglichen Zeit sei zudem eine Preisverhandlung im Einzelfall üblich gewesen, hier aber nicht erfolgt. Die Apotheke habe die Kasse vielmehr bewusst im Unklaren gelassen. Ansonsten hätte man die Rezepturarzneimittel auch nicht zur Behandlung der Versicherten abgenommen und auch nicht vergütet, trug die Kasse vor.

Die Anwälte der Apothekerin hatten wiederum auf ein Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen verwiesen, welches in einem ähnlich gelagerten Fall keinen Rückerstattungsanspruch der Kasse gesehen hatte.

Verstoß gegen Nebenpflichten

Nachdem das SG im Juli 2019 in erster Instanz noch zugunsten der Apothekerin entschieden hatte, gab das Landessozialgericht (LSG) der Kasse recht. Der AOK stehe ein Schadensersatzanspruch gegen die Apotheke zu, weil diese – ungeachtet fehlender Strafbarkeit – gegen „vertragliche Nebenpflichten im öffentlich-rechtlichen Dauerrechtsverhältnis beider Beteiligter“ verstoßen habe.

Die Inhaberin, der das Preisbildungssystem für Zytostatikazubereitungen bekannt gewesen sei, sei verpflichtet gewesen, die Kasse über ihren Beschaffungsweg und die Preise der verwendeten Wirkstoffe aufzuklären. Die Apotheke habe „in Masse und auf Vorrat importiert“ und dabei über keine Ausnahmegenehmigung für den Import von Arzneimitteln verfügt, die keine deutsche PZN hatten.

Darüber sei die Kasse zu keinem Zeitpunkt informiert worden. Hätte diese von den tatsächlichen Umständen Kenntnis gehabt, hätte sie entsprechende Leistungen nicht abgenommen und vergütet. Der Schaden sei in Höhe der gesamten Vergütung der Zytostatikazubereitungen entstanden.

Das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ohne Zulassung für den deutschen Markt sei aus arzneimittelsicherheitsrechtlichen Gründen unzulässig, so das LSG weiter. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG hätten die Versicherten keinen Anspruch auf Arzneimittel ohne deutsche Zulassung beziehungsweise sei ein solcher Anspruch „auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichen Charakter begrenzt“. Dies diene der Sicherheit und gelte unabhängig davon, ob es um Fertigarzneimittel oder um Konzentrate gehe, die dann als Infusionslösung abgegeben würden.

Unsicherheit ausgenutzt

Dass das LSG zu einem anderen Ergebnis kam als der Strafprozess, ist aus Sicht der Richter nichts Ungewöhnliches. Zwar sei es zu keinem Schaden der Versicherten gekommen, da es sich um wirkstoffgleiche Arzneimittel gehandelt habe. Die Apothekerin habe sich aber eine rechtliche Unsicherheit zu ihrem eigenen „ganz wesentlichen finanziellen Vorteil zu Nutze gemacht“. Die Pflichtverletzung der Apotheke bestand darin, die Abgabe dieser Arzneimittel nicht kommuniziert zu haben – obwohl ihr „das System und die Grundzüge der pharmazeutischen Preisbildung und der Festlegung der einheitlichen Apothekerabgabe infolge langjähriger Tätigkeit als zugelassene Leistungserbringern wohlbekannt“ waren.

„Sie hatte aus diesem System insofern gewisse Vorteile, als ihr durch die fixen Abgabepreise eine kalkulierbare Preisspanne zustand, welche ihr gleichzeitig vor einem Preiskampf durch konkurrierende Apotheken Schutz geboten hat. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin zu dem Kreis der bundesweit doch wenigen Apotheken zählte, welche zur Zytostatikazubereitung zugelassen waren.“ Auch sei ihr die „substantielle Preisdifferenz“ bekannt gewesen. „Diese Besonderheiten des Einzelfalls haben eine spezielle Informationspflicht der Beklagten gegenüber der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum entstehen lassen.“

Keine Frist für Schadenersatz

Die Rückforderungen seien auch nicht verjährt, weil die vierjährige Verjährungsfrist erst mit Möglichkeit der Kenntnisnahme der Kasse begonnen habe. Außerdem gelte die im Liefervertrag vereinbarte Frist nur im Rahmen der regulären Retaxation. „Nicht ausgeschlossen sind Schadensersatzansprüche der Krankenkasse wegen Verhaltensweisen des Apothekers, die außerhalb des Rahmens von arzneimittelrechtlichen und arzneipreisbildungsrechtlichen Bestimmungen stehen.“

Vor dem BSG wehrt sich die Apothekerin nun gegen diese Entscheidung. Zu Unrecht sei das LSG von einer Informationspflicht als ungeschriebener Nebenpflicht ausgegangen und habe einen Schadensersatzanspruch in Höhe der gesamten Vergütung bejaht. Vielmehr habe sie selbst gegenüber der Kasse einen Anspruch auf Vergütung der streitigen Zytostatikazubereitungen in der vollen abgerechneten Höhe. Am 22. Februar wird vor dem BSG verhandelt.

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