Deutscher Apothekenpreis

Medikationscheck kann Stürze verhindern

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Berlin -

Stürze mit anschließenden schweren Komplikationen gehören in Alten- und Pflegeeinrichtungen zum Alltag. Viele Verletzungen wären aber relativ einfach vermeidbar. „Sturz ist kein reines Pflegerisiko, sondern häufig arzneimittelbedingt“, sagt Dr. Ruth Britz-Kirstgen von der Rathaus Apotheke in Blankenheim. Die Apothekerin hat sich auf die Arzneimittelschulung von Pflegepersonal spezialisiert, einen leicht verständlichen Fragebogen dazu entwickelt und mit ihrem Projekt den ersten Platz beim Deutschen Apothekenpreis von Avie belegt.

„Stürze kommen sehr häufig in Pflegeheimen vor“, weiß Britz-Kirstgen aus Erfahrung. Seit Jahren betreut die Apothekerin aus Blankenheim in der Eifel drei Pflegeeinrichtungen. „Aber häufig wird nicht über die Ursachen gesprochen. Es reicht auch schon, wenn Patienten benommen, müde und antriebslos sind.“ Stürze seien doch nur die „Spitze des Eisberges“ der Probleme aufgrund fehlerhafter Medikation. Denn „ältere Patienten reagieren anders auf Arzneien als Menschen im mittleren Alter“, so die Beobachtung der Apothekerin.

Den Anstoß zum Medikationsprojekt gab 2014 die plötzliche Marktrücknahme der MCP-Tropfen: „Damit sind für uns Arzneimittel in den Vordergrund gerückt, die anticholinerge Nebenwirkungen verursachen und die besonders bei geriatrischen Patienten zum erhöhten Sturzrisiko führen können“, sagt Britz-Kirstgen. Nach der Marktrücknahme der MCP-Tropfen haben die Apothekerin und ihr Team begonnen, das Personal in den Pflegeeinrichtungen gezielt zu den möglichen Folgen der Medikationsumstellung zu schulen.

Das Pflegepersonal sollte in die Lage versetzt werden, schwierige pharmakologische Zusammenhänge an einfachen Symptomen zu erkennen, um folgenschwere Ereignisse wie Stürze zu verhindern. „Bei geriatrischen Patienten mit Polymedikation können unerwünschte Nebenwirkungen zu Desorientierung und Stürzen führen. Diese schränken die Lebensqualität stark ein und erhöhen den Pflegeaufwand“, so Britz-Kirstgen. Mit einem Fragebogen und einer datenbankgestützten Risikobewertung wurden vom Apothekenteam bewusstseinsverändernde Nebenwirkungen erfasst und die Dosierung im Bedarfsfall angepasst.

„Unser Projekt hat neben der Medikationsanalyse für die Patienten besonders die Schulung der Schwestern in den Pflegeheimen zum Ziel“, so die Apothekerin. Das Pflegepersonal soll in immer wieder durchgeführten Schulungen für den komplexen pharmakologischen Sachverhalt der anticholinergen Nebenwirkungen sensibilisiert werden.

Anticholinerge Nebenwirkungen sind bei Risikogruppen und Risikoarzneistoffen häufig. Viele Patienten unter Antipsychotika-Einnahme berichten etwa über anticholinerge Effekte wie Mundtrockenheit, Sehstörungen und Verdauungsprobleme. Der Fragebogen soll den Umgang mit dem komplexen Thema im Alltag und die Beurteilung von Nebenwirkungen erleichtern.

Beim geriatrischen Patienten häufig eingesetzte Arzneimittelgruppen wie Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Antiemetika und Schmerzmittel haben laut Britz-Kirstgen Nebenwirkungen, die auf einer Verminderung der Verfügbarkeit des Neurotransmitters Acetylcholin beruhen. Die dadurch hervorgerufenen Symptome seien denen der Alzheimerschen Erkrankung ähnlich, die auch eine Folge des Mangels an Acetylcholin ist. „Desorientiertheit, Schwindel, Übelkeit und Sturzgefährdung sind die Folgen, die eine massive Beeinträchtigung der Lebensqualität bedeuten und die Anforderungen an Betreuungs-Standards extrem erhöhen“, so die Apothekerin.

Die Priscus-Liste für potenziell inadäquate Medikation für ältere Patienten bildete den Anfang und die Basis für die Bewertung problematischer Arzneistoffklassen. „In immer wieder durchgeführten Schulungen für das Pflegepersonal versuchten wir, den komplexen pharmakologischen Sachverhalt der anticholinergen Last auf ein für die Praxis taugliches Niveau herunter zu brechen und anhand von einfachen Methoden Hilfestellung bei der Detektion anticholinerger Nebenwirkungen anzubieten“, beschreibt die Apothekerin ihr Projekt.

Es müsse vor allem berücksichtigt werden, dass die Verstoffwechselung von Pharmaka bei älteren Menschen nicht mit der eines Erwachsenen mittleren Alters zu vergleichen sei. Britz-Kirstgen: „Und jeder Mensch reagiert anders auf ein Arzneimittel. Das haben wir früher nicht so ernst genommen.“ Ältere Menschen seien daher noch aufmerksamer hinsichtlich ihrer Medikation zu beobachten.

Häufig würden Nebenwirkungen als eigenständige Erkrankung gewertet, die wiederum mit einem neuen Medikament behandelt werden. „Die Folge sind Verordnungskaskaden mit sich potenzierenden Nebenwirkungen“, so die Apothekerin.

Die Befähigung des Pflegepersonals, die Medikation in Zusammenarbeit mit den Apothekern zu bewerten, sei ein entscheidender Fortschritt. „Das ist im Zuge des vielzitierten demografischen Wandels mit stetig wachsender Zahl an Senioren unerlässlich“, ist die Apothekerin überzeugt.

Das Pflegepersonal habe durch immer wiederkehrende Schulungen nach und nach erkannt, dass für manche Symptome ein verordnetes Medikament verantwortlich sein könne. Die ausführliche Bewertung der Medikation mit Hilfe der Patientendokumentation, die anschließend in Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt erfolgte, hatte in vielen Fällen Dosisanpassungen und auch das Absetzen von Medikamenten zur Folge.

Mit ihrer Bilanz ist Britz-Kirstgen zufrieden: „Die Zusammenarbeit mit den Medizinern hat sich sehr positiv entwickelt. Unsere regelmäßige Präsenz in den Einrichtungen ist fester Bestandteil unserer Heimversorgung geworden. Der Umgang mit Medikamenten ist durch die Hilfestellung der Apotheke viel sicherer geworden.“

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