Bild-Zeitung im Apothekennotdienst

„Das war mein letzter Kindersaft“

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Berlin -

Für Janet Olgemöller, Inhaberin der Schwanenbusch-Apotheke in Essen, begann das vergangene Wochenende mit einem besonderen Notdienst. In den 15 Stunden zwischen Freitagabend und Samstagmorgen blieb kaum ein Moment zum Luftholen – wegen der vielen Patientinnen und Patienten, aber auch weil die Bild-Zeitung die ganze Nacht vor Ort war. Ohne die Unterstützung ihres Mannes, der ebenfalls eine Apotheke betreibt, hätte sie einige ihrer über 60 Patient:innen nicht versorgen können.

Jan und Janet: Ohne die Hilfe ihres Mannes hätte die Apothekerin den Notdienst nicht leisten können.Foto: Schwanebusch-Apotheke

Am Freitag um 18 Uhr nach Ladenschluss trat Olgemöller ihren Notdienst an. Bis zum nächsten Morgen um 9 Uhr hat sie viele Erwachsene und Kinder nur deshalb mit Arzneimitteln versorgen können, weil ihr Ehemann sie tatkräftig unterstützen konnte. Dr. Jan Olgemöller ist Inhaber der etwa 200 Meter entfernten Wasserturm-Apotheke. So konnte er im Falle, dass seine Frau ein verordnetes Medikament nicht mehr vorrätig hatte, aushelfen.

Nachts in der Rezeptur

„Wir haben leider nur sehr wenig Amoxicillin-Säfte geliefert bekommen“, so Olgemöller. Selbst hergestellt hat sie Vorfeld wegen der kurzen Haltbarkeit nichts. „Man weiß auch nie, was einen im Notdienst erwartet. Das ist immer wieder eine Wunderkiste.“

Olgemöller hielt also immer wieder Rücksprache mit der Notfallpraxis für Kinder und teilte dem behandelnden Arzt mit, welches Arzneimittel sie noch in welcher Menge verfügbar hat. Schnell wurde klar, dass ihr die Antibiotika für Kinder in dieser Nacht nicht ausreichen würden.

„Das war mein letzter Saft“, informierte sie den diensthabenden Arzt. „Aber wir können noch was herstellen.“ Dass die Praxis direkt eine notwendige Herstellung des Antibiotikasafts verordnete, ersparte etwas Arbeit. Ihr Mann ist also mitten in der Nacht spontan in die Rezeptur verschwunden und hat aus dem wenigen Material, das vorhanden war, noch drei Amoxicillin-Säfte für Kinder herstellen können.

Ein Erwachsener oder drei Kinder?

„Die Situation ist einfach unvorstellbar und es bricht einem das Herz. Wir haben diesen Beruf gewählt, weil wir gerne helfen. Es ist unser Anliegen, die Leute adäquat zu versorgen. Mit der Verfügbarkeit der Fiebersäften ist es aktuell zwar etwas entspannter, aber auch da sind wir ja noch lange nicht im grünen Bereich.“

Das Problem der selbst hergestellten Amoxicillin-Säfte sei die kurze Haltbarkeit von 14 Tagen. Unter Umständen müsse außerdem eine zehntägige Aufbrauchfrist gewährleisten werden. „Wenn der Saft dann im Notdienst nicht vorkommt, habe ich nur noch vier Tage Zeit, diese Rezeptur an ein erkranktes Kind abzugeben“, erklärt die Apothekerin. „Dass ich darauf sitzen bleibe, ist zwar aktuell unwahrscheinlich, aber die Gefahr besteht schon – gerade über ein langes Wochenende. Und dann habe ich wertvolle Tabletten kaputt gemacht, die ich einem Erwachsenen hätte geben können, für einen Saft, den ich im Zweifel wegschmeißen muss.“

Vor genau dieser Triage hat die Apothekerin ohnehin große Sorge: „Gebe ich meine letzten 20 Amoxicillin-Tabletten an einen Erwachsenen ab oder stelle ich aus der selbigen Packung Säfte für drei Kinder her?“

„Faktisch kein einziges Antibiotikum“

„Es gibt momentan außer Azithromycin faktisch kein einziges Antibiotikum für Kinder mehr. Das ist echt bitter und macht einen wirklich traurig.“ Die meisten Patient:innen haben eine unglaubliche Odyssee hinter sich, nehmen enorme Wege auf sich und telefonieren sich die Finger wund. „Sie kamen unter anderem aus Oberhausen, Bochum, Mühlheim, Gelsenkirchen und Bottrop.“

Eine Mutter, deren Kind einen Pfeil ins Auge bekommen hat, sei bereits seit dem Nachmittag mit dem verletzten Kind unterwegs gewesen. Über 20 Apotheken habe sie abtelefoniert, um die Arzneimittel für ihr Kind zu bekommen. „Die Mutter war völlig verzweifelt. Niemand konnte helfen und das Kind litt seit acht Stunden unter höllischen Schmerzen“, erzählt Olgemöller. Zum Glück war sie in der Lage, das Rezept zu beliefern. Aber auch nur, weil ihr Mann mit einer Sorte antibiotischer Augentropfen aus seiner Apotheke aushelfen konnte, die sie selbst nicht mehr verfügbar hatte.

„Die Selbstverständlichkeit der Arzneimittelbelieferung ist komplett ausgehebelt. Wenn mir mein Mann nicht ausgeholfen hätte, hätte ich nicht alles beliefern können.“

Der Notdienst war aber auch deswegen besonders, weil zwei Reporter der Bild-Zeitung die Apothekerin die ganze Nacht begleiteten. Herausgekommen ist eine ausführliche Reportage über die Vorgänge jener Nacht: „Nach vier Stunden ist Antibiotika-Saft ausverkauft“, lautet der Titel ihres Beitrags. 20.000 Schritte haben die Autoren gezählt, „das sind 12 Kilometer, also knapp ein halber Halbmarathon. Nur eben zwischen Medikamenten-Regalen...“

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