Appell einer Apothekerin

IKK-Chaos: „Sollen Eltern nachts durch Städte irren?“

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Berlin -

Die aktuellen Entwicklungen rund um die Kündigung des Hilfsmittelversorgungsvertrags durch die IKK classic stellen die Apotheken vor große Herausforderungen. „Die geplante Umstellung auf Einzelverträge ab dem 1. Juli möchte ich nicht mitmachen“, erklärt Eva Tingelhoff, Mitinhaberin der Apotheke am Osttor in Beckum. Die Änderungen stellten ein akutes Risiko für die Patienten dar. Erst im vergangenen Notdienst habe sie erlebt, wie wichtig die schnelle Versorgung eines Kleinkindes war.

Tingelhoff leitet eine Apotheke, die tagtäglich Patientinnen und Patienten mit Hilfsmitteln aller Produktgruppen versorgt. „Meine Apotheke ist vollversorgend, wir beliefern unsere Kundschaft umfassend mit Hilfsmitteln, darunter auch sensible Bereiche wie aufsaugende und ableitende Inkontinenzversorgung.“ Insbesondere in ländlichen oder unterversorgten Regionen bedeute dies oft: „Wir sind die letzte Anlaufstelle – tagsüber, abends, am Wochenende. Wir versorgen, wenn andere längst geschlossen haben“, betont sie. „Die bevorstehenden Änderungen gefährden aus meiner Sicht die wohnortnahe, zuverlässige Versorgung und stellen ein akutes Risiko für die Patienten dar.“

Ein aktueller Fall aus ihrem Notdienst zeigt, wie dramatisch die Auswirkungen der Vertragskündigung bereits in der Praxis spürbar wären: „Kurz nach 2 Uhr rief ein Vater eines einjährigen Kindes an. Sie kämen gerade aus der Klinik, das Kind brauche dringend eine Inhalierhilfe.“ Tingelhoff hatte das Hilfsmittel vorrätig. „Der Vater fragte verschämt, ob Zusatzkosten entstünden, denn es gehe der Familie finanziell nicht gut“, berichtet sie. „Wenig später stand er mit Rezept in der Apotheke.“ Als sie jedoch sah, dass das Kind bei der IKK classic versichert ist, dachte sie sofort: „Ab Juli würde dieses Kleinkind möglicherweise nicht mehr versorgt werden, zumindest nicht hier, sofort, wohnortnah und ohne bürokratische Hürden.“

Einzelverträge nicht tragbar

Tingelhoff fragt sich, wie es weitergehen soll. „Ab dem 1. Juli dürfen wir keine Hilfsmittel mehr zu Lasten der IKK classic abgeben, weil der Vertrag mit dem Deutschen Apothekerverband (DAV) gekündigt wurde – ohne neue tragfähige Einigung.“ Stattdessen sollen die Apotheken nun Einzelverträge unterschreiben, die „wirtschaftlich nicht tragbar“ sind. Tingelhoff weigert sich: „Ich werde den Einzelverträgen nicht beitreten, so wie es uns der AVWL empfiehlt.“ Aber sie wolle sich weiterhin dafür einsetzen, dass Patienten nicht die Leidtragenden einseitiger Entscheidungen werden.

„Wie stellt sich die IKK eine zeitnahe Versorgung vor“, rätselt Tingelhoff. „Geht es hier noch um das Wohl der Versicherten, oder nur noch um Zahlen auf dem Papier?“ Und weiter: „Wollen wir wirklich, dass Eltern nachts durch Städte irren, weil kein Vertrag mehr besteht?“ Denn das Beispiel zeigt eindrücklich: „Aufgrund der Feiertage wäre es erst am Dienstag möglich gewesen, dass der Vater sich um eine Versorgung für seinen Sohn kümmern kann“, so die Inhaberin. Sie stellt klar: „Wenn Krankenkassen ausschließlich nach wirtschaftlichen Maßstäben handeln und die Versorgung auf Einzelverträge und Preisdruck verlagern, dann gefährden wir damit unser gesamtes Gesundheitssystem.“

„Wirtschaftlichkeit nicht über Menschlichkeit“

Es gehe ihr dabei nicht um Luxus, sondern um die wichtige Grundversorgung. „Es geht um Kinder, Alte, Kranke. Und es geht um Apotheken, die Tag für Tag die Lücken schließen, die durch Bürokratie und Sparpolitik entstehen.“ Sie sei nicht gegen Wirtschaftlichkeit, „aber sie darf nie über die Menschlichkeit gestellt werden“, betont sie. „Wenn ein Gesundheitssystem nur noch funktioniert, solange es sich rechnet, dann funktioniert es nicht mehr für die, die es am dringendsten brauchen.“

Sie verdeutlicht abermals: „Die IKK classic hat sich entschieden, die Versorgung ihrer Versicherten zur Verhandlungssache zu machen. Ich habe mich entschieden, nicht mitzuspielen. Nicht aus Trotz, sondern aus Verantwortung. Für meine Patient:innen, mein Team und unser aller Gesundheit.“ Sie hoffe, dass „noch ein Umdenken stattfindet“, und zwar bevor man irgendwann erklären müsse, warum die Apotheke vor Ort nicht mehr helfen konnte.

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