„Geschäftsmodell der Fachgesellschaften“

Einfluss auf Leitlinien: NGOs wollen Hersteller-Fortbildungen abschaffen

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Berlin -

Wie viel Einfluss nehmen Arzneimittelhersteller auf die Ausgestaltung von Behandlungsleitlinien? Viel zu viel, sagen zumindest Kritiker. Der Streit ist nun neu entbrannt, nachdem die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in kurzer Zeit zwei Stellungnahmen zur Zusammenarbeit mit der Arzneimittelindustrie abgegeben hat. Ein Bündnis aus mehreren Organisationen wirft der AWMF vor, gezielt Interessenkonflikte und Abhängigkeiten zu verschleiern. Es greift die Fachgesellschaften direkt an.

Die Pharmaindustrie erkauft sich zu ihrem eigenen Vorteil Einfluss auf die Ausgestaltung von Behandlungsleitlinien und Ärzte lassen sich das gut bezahlen – gedeckt von ihren Standesorganisationen. Das werfen ihnen die Anti-Korruptions-NGOS Transparency International, Leilinienwatch und Mezis („Mein Essen zahl‘ ich selbst“) vor. Die AWMF, der deutsche Dachverband von 182 medizinischen Fachgesellschaften, hatte im November und Februar jeweils ein Positionspapier zur „Kooperation Medizinischer Wissenschaften und Industrie“ und zur „Qualitätssicherung wissenschaftlich basierter Fortbildungen und Transparenz möglicher Interessenkonflikte sowie Sicherung einer von Sponsoren unabhängigen Durchführung von Kongressen“ veröffentlicht, in denen sie sich des Themas annahmen.

Darin verweisen sie darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Herstellern sowohl in der Patientenbehandlung, der Produkt- und Verfahrensentwicklung, bei Studien und Forschungsprojekten, aber auch bei Kongressen, Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen für beide Seiten wichtig und unabdingbar sei. „Nur so können Synergien genutzt werden, die größtmöglichen Therapieerfolge für den Patienten erzielt und gleichzeitig die gesundheitlichen Risiken so gering wie möglich gehalten werden“, so die AWMF.

Insbesondere Kongresse, Fortbildungen und Tagungen seien ohne finanzielle Beteiligung der Industrie kaum umsetzbar – und Ärzt:innen seien immerhin zur kontinuierlichen Fortbildung verpflichtet. Bei der Organisation und Durchführung sei es deshalb unbedingt erforderlich, dass die Fortbildungsinhalte frei von wirtschaftlichen Interessen sind und wirtschaftliche Interessenkonflikte der Veranstaltenden und deren Organisationen transparent und deutlich sichtbar dargestellt und dokumentiert werden. „Es ist dabei darauf zu achten, dass sekundäre Interessen und daraus resultierende Interessenkonflikte für die einzelnen Vortragenden schon bei der Vortragsanmeldung, aber auch im Rahmen des eigentlichen Vortrages für alle Teilnehmer erkennbar sind“, so die AWMF. Zwar müsse jede unzulässige beziehungsweise verbotene Beeinflussung unterbunden werden – eine „pauschale Kriminalisierung der Zusammenarbeit“ führe jedoch langfristig zu „weitreichenden Berührungsängsten der Beteiligten“ und verfehle das eigentliche Ziel.

Transparency, Leitlinienwatch und Mezis hingegen sehen das als Augenwischerei und einen Rückschritt von bisher erreichten Standpunkten. Denn die AWMF würde mit ihren jüngsten Stellungnahmen ihre eigene Position verwässern: 2017 hatte sie selbst festgelegt, dass alle Arten von Interessenkonflikten „erkannt, selbst und fremd bewertet“ und „deren Einflüsse auf Entscheidungen“ reguliert werden müssen. In den beiden neuen Positionspapieren würden stattdessen nun die „gängigen Kooperationsformen von Mediziner:innen mit der Industrie quasi als natürliche Symbiose dargestellt“, so das Bündnis. Es werde verschwiegen, dass sich auch Nachteile für Patient:innen und Versicherte aus der finanziellen Verflechtung von Firmen, Ärzt:innen und Fachgesellschaften ergeben können. „Damit wird verschleiert, in welche Abhängigkeiten und Interessenkonflikte die Beteiligten geraten können.“

So würden die gegensätzlichen Interessen von Ärzt:innen und Industrie schlicht verschwiegen und stattdessen nur auf gemeinsame Ziele verwiesen – das dürfe seitens der AWMF nicht der Fall sein. Ihre Aufgabe müsse vielmehr sein, die Ärzteschaft „für das umfangreiche Beeinflussungs-Repertoire der Pharma-Konzerne zu sensibilisieren“. Denn die würden auf viele Arten erfolgen, die von der AWMF gar nicht genannt werden: So würden Hersteller regelmäßig Beraterverträge nutzen, um meinungsbildende Ärzt:innen an sich zu binden und auf die eigenen Interessen zu verpflichten. „Bisweilen sind fast alle prominenten Vertreter:innen medizinischer Fachgesellschaften durch Beraterverträge mit Arzneimittelfirmen liiert“, so die Organisationen. „Die Spitzenreiter unter den Berater:innen können auf diese Weise ihr Einkommen erheblich aufstocken.“ Dabei gehe es der Industrie darum, ihre Produkte in den Köpfen der ärztlichen Meinungsführer:innen zu verankern, die dann über Vorträge, Artikel und Mitarbeit in Leitliniengremien als Multiplikatoren wirken.

Überhaupt sei der Einfluss der Hersteller auf die Leitlinien zu groß. Bei vielen AWMF-Leitlinien habe die Mehrzahl der Leitlinienautor:innen finanzielle Unterstützung von der Arzneimittelindustrie erhalten, oft von den Herstellern der zu bewertenden Produkte. „Würden etwa die Ständige Impfkommission (STIKO) oder die Stiftung Warentest, die ebenfalls im öffentlichen Auftrag Produkte bewerten, Industriekooperationen mit den Herstellern unterhalten und rechtfertigen, nähme ihre Reputation schweren Schaden.“ Ähnlich verhalte es sich mit gesponserten Fortbildungsveranstaltungen und Industriesymposien. Insbesondere letztere seien ein „Geschäftsmodell medizinischer Fachgesellschaften“.

„Gänzlich unerwähnt bleiben im AWMF-Papier die ureigenen Interessenkonflikte der medizinischen Fachgesellschaften, die insbesondere die Fachgebiete berühren, die vorwiegend mit Medikamenten behandeln“, so das NGO-Bündnis. So werde die Therapie-Fortbildung auf Jahreskongressen oft weitgehend den Arzneimittelfirmen überlassen, die den Besucher:innen Industriesymposien anbieten. „Das wissenschaftliche Gewand der Vorträge ist dabei eher als Camouflage einzuordnen.“ Aus ebendiesem Grund würden die Ärztekammern für solche Veranstaltungen auch keine Fortbildungspunkte vergeben.

Allerdings würden die Fachgesellschaften daran gut verdienen: So werde ihnen die Überlassung der Räumlichkeiten teuer vergütet, nämlich mit bis zu 40.000 Euro für zwei Stunden – bei Selbstkosten für Saal und Technik von maximal 4.000 Euro. „Die Fachgesellschaft verkauft nicht den Saal, sondern den Zugang zu den ärztlichen Köpfen, die nirgendwo so konzentriert versammelt sind, wie beim Jahreskongress.“ Die Überschüsse, die aus den Industriesymposien resultieren, würden bisweilen die jährlichen Mitgliedsbeiträge der Fachgesellschaften übersteigen. „Daher wundert es auch nicht, dass aus den Fachgesellschaften kaum Kritik an den Arzneimittelherstellern zu vernehmen ist“, so die NGOs. „Anlass dafür gäbe es genug, angesichts von zahlreichen pseudo-innovativen Medikamenten, zunehmend absurden Arzneimittelpreisen und einer restriktiven Patentpolitik zulasten von Patient:innen in armen Ländern.“

Transparency, Mezis und Leitlinienwatch fordern deshalb, auf Industriesymposien und andere Fortbildungsformen, die von Herstellern bezahlt werden, gänzlich zu verzichten. Bei medizinischen Kongressen sollen demnach Industriestände „auf das für die Informationsvermittlung sinnvolle Maß begrenzt werden“. Auch bei der Erarbeitung von Leitlinien müsse strikter vorgegangen werden: Sachverständige mit Interessenkonflikten müssten grundsätzlich von Leitliniengremien ausgeschlossen werden und in Ausnahmefällen begründet werden, warum auf „Autor:innen mit Industriekontakten“ nicht verzichtet werden kann. Dabei sei auch der Gesetzgeber gefordert, denn freiwillige Verhaltensvorschriften würden erfahrungsgemäß nicht ausreichen. Vorbild könne dabei der „Physician Payments Sunshine Act“ in den USA sein, wonach die Industrie die Geldflüsse an alle Akteur:innen im Gesundheitswesen offenlegen muss.

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