Anwendungsbeobachtungen

Lauterbach kritisiert Intransparenz der Pharmaindustrie

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Berlin -

Pharmaunternehmen haben Ärzten für die Teilnahme an sogenannten Anwendungsbeobachtungen (AWB) Dutzende Millionen Euro gezahlt. Das zeigen Recherchen von NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung und dem gemeinnützigen Recherchebüro Correctiv. Gesundheitspolitiker Professor Dr. Karl Lauterbach (SPD) plädiert für eine Gesetzesverschärfung, um Hersteller zu mehr Transparenz zu verpflichten.

Insgesamt liefen 2015 mehr als 600 Anwendungsbeobachtungen (AWB). Über 150 neue AWB wurden gestartet – mehr als in den vorherigen zwei Jahren. Die Studien haben eine Laufzeit von teils mehreren Jahren, bei manchen sogar mehr als zehn oder 20 Jahre. Die vereinbarten Honorare liegen in der Regel bei mehreren Hundert, manchmal sogar bei mehreren Tausend Euro pro Patient.

Etwa jeder zehnte niedergelassene Arzt nahm 2015 nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) an solchen Studien teil: insgesamt knapp 13.000 Mediziner, außerdem rund 4000 Klinikärzte.

Bei AWB übermitteln Ärzte Daten, die sie routinemäßig bei ihren Behandlungen erfassen, an die Auftraggeber – meist sind das Pharmaunternehmen. Kritiker bezeichnen diese Form von Studien als „legale Form von Korruption“. Aus ihrer Sicht haben viele dieser Studien keinen wissenschaftlichen Nutzen. Ärzte könnten aber durch die Honorare dazu animiert werden, bestimmte Mittel zu verschreiben.

Pharmaunternehmen müssen AWB zwar bei den zuständigen Behörden melden, aber nicht genehmigen lassen. Außerdem werden zwar die Meldungen zu den Studien veröffentlicht – allerdings meist ohne Angaben zur Höhe der Honorare.

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach kritisiert diese mangelnde Transparenz. Dabei hatte die Pharmaindustrie in den vergangenen Monaten noch mehr Offenheit versprochen. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) hatte eine Transparenz-Initiative gestartet. Ende Juni haben erstmals mehrere Pharma-Unternehmen Zahlen zu ihren Zuwendungen an Ärzte veröffentlicht. Doch konkrete Honorare für umstrittene AWB sind davon ausgenommen, sie sollen weiter geheim bleiben.

Von der freiwilligen Transparenz-Initiative der Pharmaindustrie habe er sowieso nichts gehalten, sagt nun Lauterbach. Er plädiert für eine Gesetzesverschärfung. AWB sollten auf das unbedingt notwendige Maß begrenzt werden, auf solche, die von Behörden vorgeschrieben sind, um die Sicherheit der Mittel nach der Markteinführung zu überwachen. Außerdem dürften dann auch nur kleine Bezahlungen zugelassen werden, so Lauterbach. Denn viele derzeitige AWB führten zu „Fehlbehandlungen und Geldverschwendung“. Allerdings sei solch ein Gesetz in der Großen Koalition nicht durchsetzbar, beklagt Lauterbach. Er warte auf die nächste Gelegenheit, die Bundestagswahl 2017.

Doch auch aus der Union kommen mittlerweile kritische Töne in Richtung der Pharmaindustrie: „Die Freiwilligkeit hat offenbar Lücken, wir werden das jetzt weiter beobachten“, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin der Unions-Fraktion, Maria Michalk (CDU). „Wenn sich nichts tut, denken wir über eine verpflichtende Transparenz auch für Anwendungsbeobachtungen nach.“

Bei einem großen Anteil der AWB gehe es darum, Ärzten durch das Honorar eine Motivation zu geben, „Arzneimittel zu verordnen, die sie sonst eigentlich gar nicht verordnen sollten“, sagt Professor Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Ludwig spricht sich ebenfalls für eine Gesetzesverschärfung aus. Er fordert ein Verbot für AWB, bei denen kein wissenschaftlicher Wert zu erkennen sei. Ein unabhängiges Gremium solle dies prüfen. Dies sei die einzige Möglichkeit, „Spreu von Weizen zu trennen“. Es gebe einen kleinen Prozentsatz an AWB, die Sinn hätten. Aber: „Der Großteil dieser Anwendungsbeobachtungen ist eindeutiges Marketing und gehört verboten“, so Ludwig.

Die Intransparenz scheint System zu haben: Sogar die Pharmaindustrie selbst weiß offensichtlich nicht genau, wie viele dieser Studien laufen. Im Juli veröffentlichte der VFA eine Pressemitteilung. Hier ist die Rede von „nicht interventionellen Studien“ (NIS), ein Oberbegriff, unter dem auch die Anwendungsbeobachtungen erfasst werden. Der Verband schreibt, seine Mitgliedsunternehmen hätten „nur 37 NIS“ in 2015 initiiert.

Tatsächlich waren es deutlich mehr, das zeigt die Auswertung von NDR, WDR, SZ und Correctiv. Demnach haben die Firmen etwa 50 AWB begonnen, hinzu kommen knapp 30 Beobachtungsstudien, die von Behörden angeordnet wurden und die ebenfalls zu den NIS zählen. Diese Angaben stammen von der KBV. Dort müssen alle NIS inklusive Angaben zu den Honoraren gemeldet werden. Diese Daten werden jedoch nicht veröffentlicht.

Auf Nachfrage zu der Diskrepanz teilte der VFA mit, er habe die öffentlich zugänglichen Datenbanken des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) genutzt. Sie hätten jetzt aufgrund der Recherche von NDR, WDR, SZ und Correctiv die Register erneut durchsucht. Dabei seien sie nunmehr auf 41 AWB ihrer Mitglieder (ohne Töchterunternehmen) gekommen. Die Datenbank der KBV hätten sie nicht verwendet, da sie nicht öffentlich zugänglich sei. Auf der Internetseite correctiv.org sind jetzt alle Daten der KBV zu Anwendungsbeobachtungen aus den Jahren 2009 bis 2015 einsehbar.

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