Steigende Kosten, ineffiziente Strukturen und unzufriedenes Personal – das deutsche Gesundheitssystem steht vor großen Herausforderungen. Trotz hoher Sozialabgaben empfinden viele Menschen die Versorgung als unzureichend. Wie sich diese Probleme lösen lassen, diskutierten gestern Abend Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Bonita Grupp, Geschäftsführerin der Textilfirma Trigema, und Dr. Dierk Hirschel, Chefökonom bei Verdi.
Die Zeit zwischen der alten Regierung und der Bildung einer neuen sei ein guter Moment, um grundsätzlich über die GKV zu sprechen, erklärte Pfeiffer. „Denn eins ist klar: Die üblichen politischen Rezepte – also hier und da Geld umzuverteilen, was uns letztlich dazu zwingt, die Zusatzbeiträge zu erhöhen – funktionieren nicht mehr“, erklärte sie. „Das ist wie ein Fass ohne Boden.“
Statt die Beiträge weiter zu erhöhen, müsse das System effizienter gestaltet werden. Ein zentrales Problem sei die Frage der Ressourcenverteilung. Sie stellte daher die grundlegenden Fragen: „Wie viele Krankenhäuser und Notaufnahmen braucht man? Wie können wir Patienten besser steuern?“
Auch Grupp kritisierte strukturelle Defizite und wies auf ein weiteres Problem hin: Die Bürokratie stelle eine erhebliche Belastung dar. Ineffiziente Abläufe und lange Wartezeiten auf Facharzttermine führten dazu, dass Arbeitnehmer unnötig lange ausfielen – mit negativen Folgen für Unternehmen und die Wirtschaft. Pfeiffer stimmte dem grundsätzlich zu, betonte aber, dass man beim Thema Bürokratie differenzieren müsse: Dokumentationen und Abrechnungsprüfungen seien notwendig, um Qualität zu gewährleisten und Betrug zu vermeiden.
Hirschel widersprach der Annahme, dass das Sozialsystem zu teuer sei. Vielmehr sei das Problem, dass steigende Sozialabgaben nicht zu einer besseren Versorgung führten. „Rente muss absichern, selbiges gilt für die Gesundheitsversicherung.“ Die Bevölkerung sei durchaus bereit mehr zu bezahlen, wenn es dann auch eine bessere Versorgung gäbe, behauptete er.
Zudem hänge der Fachkräftemangel in der Pflege direkt mit den hohen Belastungen der Beschäftigten zusammen. Viele reduzierten daher ihre Arbeitszeit oder erreichten das Rentenalter nicht in Vollzeit. Mehr Geld würde er aus den im Land vorhandenen Arbeitsreserven heben. Dabei könnte ein weiteres Problem sein, dass Menschen, die mehr arbeiten könnten und wollten, oft nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür hätten – etwa aufgrund fehlender Kinderbetreuung.
Zur Beitragsbemessungsgrenze merkte er an, dass hohe Einkommen anteilig weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlten als kleinere und mittlere. Auch Selbstständige und Politiker sollten stärker in das System einbezogen werden, um die Finanzierung auf eine breitere Basis zu stellen.
Pfeiffer wiederum warnte davor, das System allein durch zusätzliche Finanzmittel stabilisieren zu wollen. Stattdessen müssten die Effizienz verbessert und die Mittel besser verteilt werden. Eine Krankenhausreform dürfe sich nicht an den Interessen der Kliniken orientieren, sondern müsse die Patientenbedürfnisse in den Mittelpunkt stellen. Das vorhandene Personal – unter besseren Arbeitsbedingungen – müsse effektiver eingesetzt werden.
Deutschland habe eine hohe Ärztedichte, doch die Arbeitszufriedenheit sei gering – ein Zeichen für strukturelle Defizite. „Wir haben ganz viele Menschen im Gesundheitswesen, die alle unzufrieden sind, weil die Arbeitsbedingungen nicht gut sind. Wir müssen die Strukturen angucken.“ Hirschel glaubt nicht, dass das Personal ausreicht: „Ich kenne keinen Arzt, der sich vor Freizeit nicht retten kann“, warf er ein. Pfeiffer entgegnete: „Ja, aber wofür? Machen die etwas Sinnvolles?“
Ein weiteres kontroverses Thema war die Frage nach mehr Eigenverantwortung der Versicherten. Pfeiffer stellte klar, dass Eigenverantwortung nicht mit Leistungskürzungen gleichzusetzen sei. In der Vergangenheit habe sich gezeigt, dass solche Maßnahmen nicht zwangsläufig zu Einsparungen führten. Die Praxisgebühr sei ein Beispiel dafür – zunächst sei die Nachfrage gesunken, doch langfristig habe sich das Niveau wieder eingependelt. „Entweder sind solche Maßnahmen zu gering, um einen Steuerungseinfluss zu haben, oder sie sind so hoch, dass die, die die Leistung brauchen, sie nicht mehr in Anspruch nehmen.“ Zudem könnten neue Medikamente wie Ozempic künftig die Budgets stark belasten.
Hirschel merkte an, dass Eigenverantwortung vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen treffe. „Eigenverantwortung trifft unterschiedliche Bevölkerungsschichten in unterschiedlichem Ausmaß – das ist sozial ungerecht.“ Der Begriff sei ein Kampfbegriff. Grupp hob hervor, dass Unternehmen ebenfalls Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden übernehmen sollten – etwa durch bessere Arbeitsbedingungen und Präventionsmaßnahmen.
Mit Blick auf die Zukunft zeigte sich Pfeiffer wenig optimistisch, dass die nächste Regierung die Herausforderungen des Gesundheitswesens ausreichend adressieren werde. Hirschel forderte umfassende Reformen, insbesondere im Krankenhaus- und Pflegebereich. Auch Grupp kritisierte, dass das Thema Gesundheit in der aktuellen politischen Agenda kaum eine Rolle spiele.