„Es muss jetzt gehandelt werden“

Gesundheitskosten explodieren – Politik steht unter Zugzwang

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Berlin -

Bei der Veranstaltung „Bitte mal den Oberkörper frei machen“ von Pharma Deutschland wurde das deutsche Gesundheitssystem im Belastungs-EKG analysiert: Demografischer Wandel, Digitalisierung, hohe Ausgaben und mangelnde Prävention belasten das System stark. Trotz Lösungsansätzen steigen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) weiter und könnten bis 2035 auf über 50 Prozent steigen – mit gravierenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Experten fordern deshalb dringend mehr Eigenverantwortung, ein stärkeres Primärarztsystem und eine nachhaltige Ausgabenpolitik.

Professor Dr. Wolfgang Greiner, Gesundheitsökonom von der Universität Bielefeld, skizzierte zentrale Herausforderungen im deutschen Gesundheitssystem: demografischer Wandel, gesellschaftliche Veränderungen, zum Beispiel Abkehr von der 40-Stunden-Woche, Innovationsschübe, Digitalisierung sowie ungelöste Finanzierungsprobleme, eine hohe Inanspruchnahme von Leistungen, mangelnde Prävention und unzureichende Datenverfügbarkeit. Lösungsansätze existierten, seien aber selten politisch populär.

Der Beitragssatz zur GKV sei schneller gestiegen als erwartet – auf derzeit 17,2  Prozent. Ohne Gegenmaßnahmen drohe ein Anstieg auf über 50 Prozent bis 2035 – mit gravierenden Folgen für Löhne, Beschäftigung und Unternehmensstandorte. „Wenn sich Politik aber nur dann bewegt, wenn weiteres Abwarten unmöglich wird, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt“, so Greiner.

Wie stoppen wir die Beitragsspirale?

Karin Maag, unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), betonte, Beitragssatzsteigerungen müssten vermieden werden. Dazu brauche es eine kurzfristige Finanzspritze, die sowohl den Krankenkassen als auch der Pflege und den Krankenhäusern „Luft verschafft“. Um Einsparungen werde man nicht herumkommen.

Andreas Storm,Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, bezeichnete den letzten Beitragssprung Anfang des Jahres als „größten in der Geschichte der Bundesrepublik“. Die Rücklagen seien massiv geschrumpft, einige Kassen verzeichneten gar „minus 20 Prozent“. Er fordert: „Wir müssen diese Beitragsspirale nachhaltig stoppen“, mit finanzieller Stärkung, einer ausgabenbewussten Politik und Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln. Nötig seien kurzfristige Übergangsinstrumente, bis Reformen wie im Primärsystem und in der Krankenhausstruktur greifen.

Daniel Bahr, ehemaliger Gesundheitsminister und heute Vorstandsmitglied der Allianz Private Krankenversicherung, kritisiert, dass die Regierung durch Schuldenaufnahme und Sondervermögen Reformdruck verliere. „Es muss jetzt gehandelt werden.“ Er fordert mehr Eigenbeteiligung, eine Überprüfung der Arzneimittelzuzahlung und des Leistungskatalogs sowie eine bessere Steuerung – insbesondere über Telemedizin. „Ich habe nicht den Eindruck, dass momentan ein Plan vorliegt, in welche Richtung es geht.“

Bahr wirbt für Telemedizin

Ein häufig diskutierter Reformvorschlag ist die Einführung eines Primärarztsystems. Patienten sollen zunächst ihren Hausarzt aufsuchen, der gezielt überweist. „Ich glaube, wir müssen eine Steuerung über Telemedizin vornehmen. Anrufe: Ist ein Arzt-Patienten-Kontakt nötig und wenn ja, welcher“, so Bahr.

Dr. Harald Terpe, Grünen-Abgeordneter im Landtag Mecklenburg-Vorpommern, schlägt vor, die Steuerung könne „vielleicht über den ersten Arztkontakt“ erfolgen. Notwendig seien „gemanagte Wege“, um Fehlläufe zu vermeiden.

Auch Storm kritisiert, dass kein Gesundheitssystem so ungesteuert sei wie das deutsche. Eine zu späte, unkoordinierte Behandlung koste Lebensqualität und Lebensjahre. Einigkeit besteht darüber, dass das Primärarztsystem nicht allein die großen Einsparungen bringen wird – aber ein wichtiger Schritt sei.

Apotheke einbinden?

Trotz politischer Absicht spielten Apotheken in der Disskussion kaum eine Rolle. Dabei sieht der Koalitionsvertrag ausdrücklich vor, die Offizin stärker in die Versorgung einzubinden. Maag betonte zwar, das System müsse offener werden, lehnte jedoch eine stärkere Steuerungsfunktion der Apotheken ab: „Ich möchte Sie sehen, wenn Sie kommen, und dann mache ich eine Diagnose.“ Widerstand gegen eine rein hausarztzentrierte Versorgung sei zu erwarten, so Maag.

Pharma als Schlüsselindustrie

Sebastian Wachtarz, Direktor Gesundheitspolitik bei AbbVie, sieht in der pharmazeutischen Industrie einen Wachstumsmotor. Sie generiere „Wachstum und Jobs“. Das AMNOG sei ein „bürokratisches Monster“, gleiche aber Zugang, Innovation und Preis gut aus. „Kein anderes Land bringt so schnell so viele innovative Medikamente auf den Markt wie Deutschland.“ Die Pharmaindustrie sei kein Kostentreiber. „Würden Bürgergeldempfänger nicht von den Kassen getragen, wäre ein großer Brocken weg.“

Terpe bestätigte: Der Staat habe hier „im Grunde versagt“. Auch in der Prävention übernehme er kaum Verantwortung – „das tragen die Kassen allein“.

Digitalisierung vorantreiben

Gesundheitskompetenz müsse gestärkt werden, so Storm: „Unsere Gesundheitskenntnisse sind dramatisch schlecht, auch im Bereich Mental Health.“ Er forderte ein Schulfach zur gesundheitlichen Aufklärung.

Bei der Digitalisierung sieht Maag die ePA „einigermaßen auf einem guten Weg“. Storm glaubt an ihren Durchbruch „wenn sie automatisch gefüllt wird“. Bahr fordert mehr Fortschritt beim Datennutzungsausgleich: Datenschutz dürfe nicht Innovation verhindern. KI-Systeme könnten „in Teilen ergänzen“.

Kommissionen bis 2027

Deutschland komme bei Reformen seit Jahren nicht voran, kritisierte Terpe. Dass nun wieder Kommissionen bis 2027 geplant seien, sei „Wahnsinn“. Storm hält Kommissionen nur für sinnvoll, wenn parallel Sofortmaßnahmen beschlossen werden. „50 Prozent Beitragssatz sind nicht tragbar, aber wir steuern sicher darauf zu“, warnt er. Es brauche einen Gesamtblick – auch vom Kanzler. Auch Maag hält 2027 für „viel zu spät“. Jetzt sei Mut zu konkreten Einsparungen gefragt.

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