Seit mehr als 15 Jahren wird über die Rx-Preisbindung gestritten. Obwohl sie ebenso schlicht wie nachvollziehbar ist, zerbrechen sich die Gerichte darüber die Köpfe – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Luxemburg wurden bereits mehrere Schleifen gedreht. Mittlerweile wird in entlegenen juristischen Winkeln nach Argumenten gekramt; dabei wäre es allerhöchste Zeit, ihren eigentlichen Zweck, nämlich den Schutz der Patientinnen und Patienten, endlich anzuerkennen. Ein Kommentar von Patrick Hollstein.
Laut § 7 Heilmittelwerbegesetz (HWG) sind Zuwendungen und sonstige Werbegaben grundsätzlich verboten, außer es handelt sich um geringwertige Kleinigkeiten. Zulässig sind allerdings Bar- oder Mengenrabatte, wobei Letztere wiederum nicht bei apothekenpflichtigen Medikamenten gewährt werden dürfen. Und: Alle Ausnahmen stehen unter dem Vorbehalt, dass sie nicht gegen die Preisvorschriften nach Arzneimittelgesetz (AMG) und Sozialgesetzbuch (SGB V) verstoßen.
Auch wenn die Vorschrift etwas kompliziert formuliert wurde, ist die Sache im Grundsatz klar: Mit Rezepten sollten keine Geschäfte gemacht werden. Denn: Kranken Menschen soll nicht zugemutet werden, auf der Suche nach dem besten Schnäppchen erst noch die Apotheken im Umkreis abzuklappern. Und Apotheken sollten sich einen Wettbewerb um die beste Qualität liefern – und keine Preisschlachten.
Der Bundesgerichtshof (BGH) war lange sehr stringent, was die Einhaltung der Vorschriften angeht. Rabatte und Boni wurden für unzulässig erklärt – für deutsche Apotheken genauso wie für ausländische Versender. Nur geringwertige Kleinigkeiten waren nach Ansicht der Richter erlaubt, weil es so zur Rechtfertigung von traditionellen Zugaben und Zeitschriften seit längerem explizit vorgesehen war.
Weil 2008 das Bundessozialgericht (BSG) im Zusammenhang mit dem Zwangsrabatt von DocMorris aber zu einem anderen Ergebnis gekommen war, wurde der Gemeinsame Senat einberufen. Der legte sich 2013 auf das Marktortprinzip fest: Wenn Medikamente nach Deutschland geliefert werden, gelten auch die deutschen Vorschriften.
Weil die Frage damit hinreichend geklärt zu sein schien, sahen die obersten Richter auch in den folgenden Jahren nie einen Grund, einen der vorgelegten Fälle beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen.
2015 setzte sich aber ein Richter des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG) plötzlich überraschend über diese Grundsätze hinweg und verwies einen Streit um ein Bonusmodell von DocMorris freihändig nach Luxemburg. Am 19. Oktober 2016 kippte der EuGH tatsächlich die Preisbindung – und sorgte damit für Schockwellen in Deutschland.
Paradoxerweise rechtfertigte der EuGH seine Entscheidung ausgerechnet mit dem Fremdbesitzverbot, das er erst ein paar Jahre zuvor verteidigt hatte: So sei das Internet der einzige Zugang für ausländische Kapitalgesellschaften zum deutschen Markt – und da Versandapotheken mit ihrem „eingeschränkten Leistungsangebot“ keine gleichwertige Versorgung wie die Apotheken vor Ort erbringen könnten, sei der Preiswettbewerb für sie ein besonders wichtiger Faktor, um überhaupt mitspielen zu können.
Mit anderen Worten: Gegenstück einer qualitativ hochwertigen Versorgung kann für Unternehmen, die sich zur Umgehung rechtlicher Grundsätze ins niederländische „Exil“ abgesetzt haben, nur die Rabattschlacht sein – das klang nicht nur zynisch, sondern war es auch: Auf nur zwölf Seiten kassierten die Richter das verbriefte Recht der Mitgliedstaaten, über das Niveau, auf dem sie den Gesundheitsschutz organisieren, selbst zu entscheiden.
Absurd war der Richterspruch aber nicht nur wegen seiner Widersprüche, sondern auch, weil er eine Abwärtsspirale auszulösen drohte: Würde die Preisbindung auch innerhalb Deutschlands fallen, würden die EU-Versender nach der Logik des EuGH einen neuen Vorteil benötigen, um im Geschäft bleiben zu können.
Wohl auch vor diesem Hintergrund blieben BGH und auch das Bundesverwaltungsgericht hart, als sie sich in den folgenden Jahren mit Kuschelsocken und Ofenkrusti, mit Geschenkpapier und 1-Euro-Gutscheinen auseinandersetzen mussten. Zeitweise, so schien es, wurden sogar besonders strenge Maßstäbe angelegt: Selbst die Zulässigkeit von Taschentüchern oder Traubenzucker wurde in Frage gestellt.
Anders als ihre Kollegen in Luxemburg wussten die Richter in Karlsruhe und Leipzig, was auf lange Sicht drohte: Würde der Marktanteil der ausländischen Versender steigen, ließe sich die Preisbindung irgendwann auch national nicht mehr begründen, so die mahnende Analyse, die sie öffentlich zu Protokoll gaben.
Lange hofften die Gerichte wohl auch, dass sich noch eine Gelegenheit finden ließe, den EuGH zu einer Korrektur seiner Entscheidung zu bewegen. Denn die Richter hätten sich nicht hinreichend mit der Thematik auseinander gesetzt; ihr Urteil habe „maßgeblich auf ungenügenden Feststellungen“ beruht, hieß es vom BGH. Insbesondere die Folgen für die flächendeckende Versorgung schienen regelrecht ausgeblendet worden zu sein – weil der Kollege aus Düsseldorf seinerzeit bei seinem Alleingang dazu gar keine Feststellungen geliefert habe.
Tatsächlich geriet das eigentliche Thema in den vergangenen Jahren immer weiter aus dem Blick: Zuletzt wurde nicht mehr über den Bonus an sich gestritten, sondern über die Frage, ob dessen Ankündigung mit dem Werbeverbot für Rx-Arzneimittel in Einklang zu bringen sei. Das hatte freilich einen Grund, denn der EuGH schien mittlerweile einen neuen Blickwinkel auf die Sache gefunden zu haben: So wurden etwa Mengenrabatte der lettischen Apothekenkette Euroaptieka für unzulässig erklärt.
Als Folgefrage wird aktuell beim EuGH geprüft, ob ausgerechnet Rx-Medikamente dabei weniger restriktiv zu bewerten sind als OTC-Präparate. Hintergrund für diese paradoxe Auslegung ist die Argumentation des Generalanwalts, dass der Arzt ja die Entscheidung für ein bestimmtes Arzneimittel hier bereits getroffen habe. Und parallel wird gerade durchdekliniert, ob Sofortrabatte anders zu bewerten sind als Gutschriften, da in ersterem Fall ja kein Mehrgebrauch zu erwarten sein dürfte.
So sinnvoll es sein könnte, die sumpfigen Angebote der Versender auch über diese Wege trocken zu legen – an der entscheidenden Frage führt kein Weg vorbei: Wie viel Umsatz dürfen sich DocMorris & Co. noch erkaufen, bis endlich der eigentliche Zweck der Preisbindung wieder in den Blick genommen wird: Wer Rabatte auf Rezept gewährt, betrügt das Solidarsystem! Wer Umsätze mit Boni erkauft, ruiniert die flächendeckende Versorgung! Wer Patientinnen und Patienten mit Prämien ködert, gefährdet die Gesundheit von Menschen!