„Wo sind die harten Fakten?“

BGH skeptisch – Die Preisbindung wankt

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Karlsruhe -

Eigentlich hätte heute am Bundesgerichtshof (BGH) die Rx-Preisbindung ein für allemal verteidigt werden können – ja müssen. Doch es kam komplett anders. Der 1. Zivilsenat hält die Beurteilung des Oberlandesgerichts München (OLG) offenbar für unzureichend, jedenfalls fehlten „harte Fakten“, um die gesetzliche Einschränkung zu rechtfertigen. Im Laufe der Verhandlung wurde der Anwalt der Apotheken in ein regelrechtes Kreuzverhör genommen.

In dem konkreten Fall ging es um ein mehr als zwölf Jahre altes Rabattmodell der ehemaligen DocMorris-Tochter Wellsana, die es seit zehn Jahren ebenfalls schon nicht mehr gibt. Der Bayerische Apothekerverband (BAV) hatte dagegen geklagt. Jahrelang war der Streit vergessen und schien nur noch historischen Charakter zu haben. Doch auf 64 Seiten hatte das OLG München im vergangenen Jahr akribisch zusammengetragen, warum die Rx-Preisbindung dem Schutz der Gesundheit dient und nicht gegen Europarecht verstößt.

Doch offenbar hat das die Richter am BGH überhaupt nicht überzeugt. Zwar sehe man nicht, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2016 unumstößlich sei, mit dem ausländische Versender wegen ihre struktuellen Wettbewerbsnachteils von der Preisbindung befreit wurden, so der Vorsitzende Richter Professor Dr. Thomas Koch. Sollten neue Fakten vorgetragen werden, die den Anforderungen des EuGH entsprächen, könne und müsse man die Sache erneut vorlegen. Denn genaugenommen habe der EuGH damals eigene Feststellungen getroffen, was vor dem Hintergrund der Aufgabenteilung unter den Gerichten eigentlich unzulässig sei.

Aber die entscheidende Frage sei, ob genügend stichhaltige Argumente und Beweise vorgetragen seien, um die alte Preisbindung nach § 78 Arzneimittelgesetz (AMG) ebenso wie die neue nach § 129 Sozialgesetzbuch (SGB V) zu rechtfertigen. Beides müsse erfüllt sein, um die Werbeaktion zu verbieten; im Grunde gehe es aber nur um die alte Regelung, da die neue darauf aufgesetzt worden sei, so Koch überraschend. Auch über § 7 Heilmittelwerbegesetz (HWG) komme man nicht weiter, weil Bar- oder Mengenrabatte erlaubt sind, solange sie nicht gegen die Preisvorschriften verstoßen. Genau das sei aber die strittige Frage.

Alles zusammengekratzt – aber keine Fakten

Zur Rechtfertigung müsse substantiiert dargelegt werden, warum die Regelung geeignet und angemessen sei, um die Gesundheit und die flächendeckende Versorgung zu sichern. Das OLG habe zwar ein „sehr ausführliches und eingehendes Urteil“ vorgelegt. „Hier wurde alles zusammengekratzt“, so Koch. Aber genügt das auch inhaltlich? Laut dem BGH-Richter hat der EuGH schon 2016 klar gemacht, dass er nur Nachweise mit statistischen Daten oder anderen Mitteln, die in ihrer Aussagekraft vergleichbar seien, anerkenne. „Es müssen also harte Fakten auf den Tisch. Eine bloße Stichhaltigkeitsprüfung reicht nicht, die Beweise selbst müssen stichhaltig sein.“

Daran habe man Zweifel, so Koch. Ein Zusammenhang mit dem Apothekensterben sei möglicherweise nicht belegt. Und auch die Apothekendichte hat aus Sicht des Senats offenbar wenig Aussagekraft, da der Versandhandel ja auch dazu beitragen könne, die Versorgung in der Fläche zu sichern. Die Stellungnahme der Bundesregierung aus dem Jahr 2021 beschränke sich auf drei Absätze, aus denen man nicht wirklich etwas herausziehen könne. „Es gibt Bedenken, dass man das Berufungsurteil aufrecht erhalten kann.“

Axel Rinkler vertrat den BAV vor dem BGH.Foto: APOTHEKE ADHOC

Nach einem kurzen Plädoyer von Thomas Winter, der DocMorris vor dem BGH vertrat, kam Axel Rinkler an die Reihe. Der Prozessvertreter des BAV musste nun auf die skeptischen Ausführungen des Vorsitzenden eingehen. Vorsichtig gab er zu bedenken, dass man mit der Forderung nach harten Fakten nicht zu weit gehen dürfe. Schließlich könne es dem Gesetzgeber nicht zugemutet werden abzuwarten, bis die Schäden eingetreten und eine Umkehr unmöglich seien. „Wenn eine Apotheke zusperrt, dann macht sie nicht mehr auf.“

Der Markt entwickle sich sehr dynamisch, nicht zuletzt durch das E-Rezept gewinnen laut Rinkler die Versender immer mehr Marktanteile. Den TV-Kampagnen könne man sich als Verbraucher faktisch gar nicht mehr entziehen. Das sei zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Preisbindung überhaupt nicht absehbar gewesen. „Wie soll man also im Gesetzgebungsverfahren schon harte Fakten haben? Das beißt sich.“ Man müsse dem Gericht zugestehen, eine eigene Bewertung anhand der aktuellen Situation vorzunehmen.

Befürchtungen bestätigt

„Der Versandhandel hat eine Stellung erreicht, in der man ihm zumuten kann, sich an die Einschränkungen zu halten“, so Rinkler. Das Koordinatensystem aus Eignung, Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit sei in ständigem Fluss, da könne man keine harten Fakten im Sinne einer Statistik verlangen. Man sehe aber doch, dass sich der Markt genau in die Richtung verschiebe, die zu befürchten gewesen sei. „Die begründete Annahme des Gesetzgebers hat sich bestätigt.“ Und in drei Jahren komme man bei einem möglichen neuen Verfahren womöglich sogar noch klarer zu dieser Feststellung.

Wenn der BGH sich aber tatsächlich nicht von den Ausführungen des OLG überzeugen ließe, müsse er das Verfahren zurückverweisen und den Parteien die Möglichkeit geben, weitere Tatsachen vorzutragen. „Es ist keinesfalls ausgeschlossen, sondern wahrscheinlich, dass weitere Unterlagen und Statistiken eingebracht und berücksichtigt werden, die Ansprüchen dann genügen.“

Aber damit hatte sich der Anwalt offenbar in die Nesseln gesetzt, jedenfalls begann jetzt ein völlig überraschendes Kreuzverhör. „Was soll denn da noch kommen“, fragte der Vorsitzende Richter. „Sie haben doch schon alles gegeben.“ Einen neuen Sachvortrag könne man doch ohnehin nicht berücksichtigen.

Man könne den Vortrag so ausrichten, dass er den Maßgaben genüge, so Rinkler. Die Anforderungen des EuGH seien seit dem Urteil aus dem Jahr 2016 bekannt, so Koch. Einen Grund für eine rechtliche Rüge und damit eine Zurückverweisung sehe man nicht, fegte der Richter das nächste Argument vom Tisch. Die Welt habe sich aber seitdem weiter gedreht, selbst die Stellungnahme der Bundesregierung sei drei Jahre alt, unternahm der Anwalt einen weiteren Versuch.

Versorgung wirklich gefährdet?

Nun mischte sich Jörn Feddersen, stellvertretender Vorsitzender des Senats, ein: Selbst wenn man im Sinne des Vorsorgeprinzips zugestehe, dass nicht abzuwarten sei, bis das Kind in den Brunnen falle – „wir wissen doch gar nicht, ob überhaupt eine Gefahr besteht“. Selbst das OLG habe zu Protokoll gegeben, dass die Versorgung zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen sei. Und auch wenn man unterstelle, dass der Versandhandel die flächendeckende Versorgung gefährde und das E-Rezept eine weitere machtvolle Eintrittsmöglichkeit darstelle, sei der Nachweis immer noch nicht erbracht, dass die Preisbindung für eine wirksame Bekämpfung dieser Gefahr geeignet sei.

Als Vertreter des BAV ergriff Dr. Timo Kieser das Wort.Foto: APOTHEKE ADHOC

Das Argument, dass man dem Gesetzgeber damit faktisch Fesseln anlege, fegten die beiden Richter ebenfalls hinweg: Jeder Eingriff in Grundfreiheiten müsse dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, das sei vor jedem Gericht so. „Das Thema liegt seit einem Jahrzehnt auf dem Tisch, es fehlt an harten Fakten. Grundrechtseinschränkungen brauchen immer harte Fakten.“

Unbeantwortet sei, inwieweit der Versandhandel zum Apothekensterben beitrage – oder ob er nicht längst selbst zur flächendeckenden Versorgung beitrage. „Man kann das nicht trennen, die Arzneimittelversorgung wird längst durch verschiedene Dienstleister gewährleistet.“

Genau dazu könne man ja Zahlen und Fakten vorlegen, so Rinkler. Man müsse aber doch auch bedenken, dass die Preisbindung bislang existiere. „Wir können doch nicht sagen: ‚Wie wäre es ohne?‘ Wir können doch nicht einen Landkreis zum Reallabor machen und testen, wie sich der Apothekenmarkt dort ohne Preisbindung verändert.“ Wieder konterte Feddersen: „Wir haben doch seit Jahren faktisch ein Reallabor.“

Chance verpasst

Nun übernahm Koch wieder: „Die Welt dreht sich immer weiter, aber wir müssen irgendwann entscheiden. Aus unserer Sicht ist alles thematisiert worden, es wurde nichts zurückgehalten. Die Frage ist also, hält die Argumentation den Maßstäben stand oder nicht.“

Weil Rinkler nun noch einen Versuch unternahm, wurde Koch deutlich: „Sie hätten seit 2016 alles aufgreifen können.“ Das OLG habe versäumt, einen Hinweis zu geben, so der Anwalt. „Das kann der Prozessbevollmächtigte nicht selbst erkennen? Warum muss das Berufungsgericht darauf hinweisen?“ Weil die Einschätzung des OLG von der Auffassung getragen gewesen sei, dass es so schon genügend Argumente in der Hand habe, so Rinkler.

Für den Versender führte Moritz Diekmann das Verfahren in den Vorinstanzen.Foto: APOTHEKE ADHOC

Nun meldete sich der Anwalt der Gegenseite noch einmal zu Wort. Adressat des EuGH seien weder die Anwälte noch die Gerichte gewesen. Alleine der Gesetzgeber hätte es in der Hand gehabt, die Rechtfertigung für die Einschränkung zu geben. „Und der hat nicht geliefert“, so Winter. Daher werde ihm auch die Neuregelung nach §129 SGB V auf die Füße fallen, so der DocMorris-Vertreter. „Man hätte nach dem EuGH-Urteil vier Jahre Zeit gehabt, eine empirische Grundlage zu liefern. Aber es bleibt alles abstrakt. Faktisch gibt es nichts.“ Er würde sich wünschen, dass der BGH sich auch zur neuen Regelung äußere, ansonsten werde es sicher weitere Verfahren geben.

Vergleich mit anderen Branchen

Ganz zum Schluss sprang für den BAV Dr. Timo Kieser seinem unglücklichen Kollegen bei. „Versorgungssicherheit und Versandhandel ist nicht das Thema, sondern es sind die privilegierten Bedingungen“, so der Anwalt von der Kanzlei Oppenländer, das den BAV in den Vorinstanzen vertreten hatte. Und dazu habe das OLG durchaus harte Fakten geliefert: „Es hat den Vergleich mit anderen Märkten gezogen, hat Volkswirtschaft und Wissenschaft hinzugezogen.“

Auch wenn es in seiner Begründung nicht in dieser Intensität darauf abgestellt habe, so habe es im Verfahren doch deutlich gemacht, dass Preiswettbewerb zu Verdrängung führe, zu Schließungen in der Fläche und zur Benachteiligung kleinteiliger Strukturen. „Muss im Apothekenmarkt wirklich erst eintreten, was im Bereich der Unterhaltungselektronik und bei früher preisgebundenen Markenprodukten, die in der Fläche meist nicht mehr erhältlich sind, schon passiert ist?“

Er bedauere, dass die Bundesregierung nicht mehr geliefert habe, aber Fakt sei, dass es im genannten Reallabor sehr wohl ein deutliches Apothekensterben gegeben habe. „Wie weit muss es gehen? Was soll das OLG, was soll der Gesetzgeber noch reinschreiben? Wollen wir wirklich warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist?“

Koch beendete die Verhandlung: Es sei alles gesagt, für das Urteil werde es einen Verkündungstermin geben.

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