Zu viel da, aber trotzdem knapp

Der Kollaps der Impfstofflogistik

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Berlin -

Dass die Pandemie im Herbst noch einmal zuschlägt, haben Virologen den ganzen Sommer über prophezeit. Was jedoch keine wissenschaftliche Prognose vorhersehen konnte, ist das epochale Missmanagement der scheidenden Bundesregierung. Erst wurde zu viel bestellt und jetzt, wo wir es brauchen, ist zu wenig da – obwohl eigentlich mehr als doppelt so viele Dosen zur Verfügung stünden als gebraucht. Dass wir trotz hundert millionenfacher Lieferungen nun ausgerechnet während der ohnehin verpennten Booster-Impfkampagne vor Engpässen stehen, ist ein Skandal, kommentiert Tobias Lau.

Erst hat es die Bundesregierung vermasselt, die richtigen Vorbereitungen für den völlig absehbaren Bedarf zu treffen. Dann hat sie versucht, aus dem Boden zu stampfen, was unter größten Anstrengungen bereits aufgebaut, dann aber von ihr wieder zerschlagen wurde. Und nun, da auch dank vieler individueller Initiativen die längst überfällige Booster-Kampagne angelaufen ist, wird sie vielerorts durch ein Phänomen ausgebremst, das wir längst überwunden glaubten: Impfstoffmangel.

Fast 114 Millionen Dosen Corona-Impfstoff sehen die aktuellen Lieferprognosen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) allein für das vierte Quartal vor: 25,8 Millionen von Biontech, 47,2 Millionen von Moderna, 14 Millionen von AstraZeneca sowie 26,6 Millionen von Johnson & Johnson. Davon bleibt allerdings schon bedeutend weniger übrig, wenn man die Spenden an die Covax-Initiative herausrechnet: 40,6 Millionen Dosen von AstraZeneca und Johnson & Johnson gehen da weg – die gesamten Lieferungen im vierten Quartal werden gespendet. Hinzu kommen noch einmal 10,2 Millionen Biontech-Dosen: knapp 1,5 Millionen in der letzten Oktoberwoche und alle Lieferungen aus dem November, zusammen knapp 8,8 Millionen Dosen. Nur Moderna bleibt komplett im Land; hier wurden im dritten Quartal 6,6 Millionen Dosen gespendet.

Gegen Impfstoffspenden für Entwicklungsländer zu argumentieren, ist natürlich dünnes Eis. Man muss sie aber auch überhaupt nicht infrage stellen, um zu sehen, wie fatal ihr Timing ist: Von den 57,4 Millionen gespendeten Dosen gingen 50,8 im vierten Quartal ab. Nochmal: Dass genau dann der Bedarf steigen würde, war seit Monaten absehbar, es musste mindestens einberechnet werden.

Zwar bleiben auch ohne die gespendeten Kontingente weit mehr als doppelt so viele Dosen übrig, die für die 30 Millionen Impfungen bis Weihnachten benötigt werden. Dennoch: Impfaktionen müssen abgeblasen werden, weil nicht genug Impfstoff zur Verfügung steht, und in den Arztpraxen sieht es nicht viel besser aus. Comirnaty gibt es wie zu Beginn der Impfkampagne am Jahresanfang nur stark rationiert.

Dass wir es im Moment mal wieder nicht hinbekommen, hat nicht nur mit Lieferzahlen und -zeiten oder Spendenkontingenten zu tun, sondern vor allem mit Strukturen und Prozessen. Die waren eingespielt, bis die Noch-Regierung sie ohne Not zerschlagen hat. Nun wird versucht, sie im Interregnum zwischen Groko und Ampel wieder hochzufahren. Doch was über Monate unter Höchstbelastung aufgebaut wurde, lässt sich beim zweiten Mal nicht automatisch über Nacht wiederbeleben.

Es war ein fataler doppelter Fehler, gleichzeitig Impfzentren mit kurzer Frist zu schließen und die kostenlosen Bürgertests abzuschaffen. Beide Entscheidungen wurden nach einem wenige Wochen langen Intermezzo rückgängig gemacht – ihre Folgen kann man allerdings nicht ohne weiteres rückgängig machen: Die Abläufe in der Impfstofflogistik der Zentren wurden zerschlagen und müssen sich nun erst neu etablieren. Das Personal in den Impfzentren wurde nach Hause geschickt, nur um ein paar Wochen später gefragt zu werden, ob es nicht doch nochmal ran will. Aber auf Grundlage welcher Perspektive? Wer soll ihnen vor Ort versprechen, dass die Bundesregierung künftig weniger erratische Entscheidungen trifft – und zwar diesmal wirklich?

Es bleibt also derzeit das Meiste an den Hausärzt:innen hängen. Die hatten schon bei der eigentlichen Impfkampagne ein schweres Kreuz zu schleppen. Der jetzige Ansturm ist für viele aber erst recht nicht zu bewältigen. Nicht zu vergessen, dass keine Zeit für die eigentliche hausärztliche Tätigkeit bleibt, wenn man nichts tut, außer zu impfen. Es ist eine neue Facette der Sekundäreffekte durch die Pandemie: In den Krankenhäusern müssen planbare Eingriffe und Therapien wegen der hohen Zahl an Covid-Patienten verschoben werden, in den Arztpraxen kommen die Mediziner nicht zu ihrem eigentlichen Kerngeschäft, weil sie die ganze Zeit mit dem Impfen gebunden sind.

Die Folge: Viele steigen aus. Einer aktuellen Meldung der Berliner Zeitung zufolge haben allein in der Hauptstadt bereits 1000 Arztpraxen aufgehört, gegen Corona zu impfen – jede Dritte. All das wäre vermeidbar gewesen. Die Bundesregierung hat an anderen Stellen astronomische Summen in die Hand genommen, um Pandemiefolgen abzufedern. Die Impfzentren zwischen Oktober und Mitte November offenzuhalten, hätte einen winzigen Bruchteil dessen gekostet. Aber dass sie nur so kurz geschlossen bleiben, war ja nicht absehbar. Woher hätte die Bundesregierung auch wissen sollen, dass eine vierte Welle kommen könnte?

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