Nach einem harten Wahlkampf, einem eher mäßigen Wahlergebnis und zähen Koalitionsverhandlungen geschah heute das Undenkbare: Statt dass die neue schwarz-rote Koalition endlich mit der Arbeit beginnen konnte, scheiterte die Wahl zum Kanzler. Unverantwortlich, kommentiert Lilith Teusch.
Friedrich Merz hatte es eilig: Seit dem Ende der Ampel-Regierung drängte der CDU-Chef auf Tempo. Früh forderte er die Vertrauensfrage, führte zügig Koalitionsverhandlungen und kündigte an, dass die neue Regierung noch vor Ostern stehen solle. Dieser ambitionierte Zeitplan ließ sich zwar nicht ganz halten, aber beinahe: Ende April stand der Koalitionsvertrag, abgesegnet von CDU, CSU und per Mitgliedervotum auch von der SPD. Die Ressorts waren verteilt, die Ministerinnen und Minister benannt und die Kanzlerwahl galt als bloße Formsache.
Doch heute kam alles anders. Merz scheiterte im ersten Wahlgang – und offenbar fehlt ihm auch das Vertrauen in einen zweiten, denn dieser wird heute nicht mehr stattfinden. Das bedeutet: Keine Ernennung und Vereidigung der Ministerinnen und Minister, keine Aufnahme der Regierungsgeschäfte – das Land muss weiterhin warten.
Die Quittung bekam er wohl aus den eigenen Reihen. Schließlich hatte es bereits während der Koalitionsverhandlungen heftig gekracht. Das Sondervermögen und die Reform der Schuldenbremse stießen bei vielen in der CDU-Basis auf Widerstand. Der Koalitionsvertrag passierte zwar den kleinen Parteitag, doch Merz hatte mit seiner Wende in der Schuldenpolitik Vertrauen eingebüßt.
Auch mit seiner Ministerliste hat er Kollegen vor den Kopf gestoßen. Wer eine Partei führen will, darf eben nicht nur die eigenen Vertrauten um sich scharen. Doch genau das hat Merz getan – und damit vor allem den Arbeitnehmerflügel der CDU, die CDA, enttäuscht. Dort brodelte die Unzufriedenheit schon länger, nun scheint sie sich in der Abstimmung entladen zu haben. Die Botschaft ist klar: Wer so regiert, ohne einzubinden, riskiert den Rückhalt der eigenen Leute.
Auch SPD-Chef Lars Klingbeil hat mit der Kabinettsaufstellung das linke Lager seiner Partei enttäuscht. Angeblich soll es hier jedoch keine Abweichler gegeben haben. Ob das stimmt, lässt sich schwer sagen. Der Kurs in der Migrationspolitik dürfte auch hier einige vor den Kopf gestoßen haben.
Möglicherweise fürchtet Merz jedoch eine Wiederholung des Fiaskos wie bei seinem Antrag zur Migrationspolitik, als die AfD mitstimmte. Ein Kanzler auf Gnaden der AfD will Merz sicher nicht werden.
Die AfD reagierte erwartungsgemäß: Parteichefin Alice Weidel forderte sofort Merz’ Rückzug und Neuwahlen. Kein Wunder – laut aktuellen Umfragen wäre die rechtsextreme Partei der größte Profiteur eines solchen Szenarios. Allerdings auch der einzige: Keine der etablierten Parteien kann ein Interesse an Neuwahlen haben. SPD, CDU und CSU müssten dann mit herben Verlusten rechnen – für ein rot-schwarzes Bündnis hat es so schon nur gerade so gereicht. Bei Neuwahlen wären realistisch mindestens ein weiterer Koalitionspartner nötig – sofern ein Bündnis mit der gesichert rechtsextremen AfD weiterhin ausgeschlossen bleibt.
Fakt ist: Es bleibt keine Zeit für politische Spielchen. Inmitten wirtschaftlicher Unsicherheit, sozialpolitischem Reformstau, eines aggressiveren außenpolitischen Umfelds und einem andauernden Krieg in Europa braucht das Land Stabilität. Bleibt nur zu hoffen, dass SPD und Union sich zusammenraffen können und Merz nach dem verpassten Denkzettel doch noch zum Kanzler wählen.