Interview Professor Dr. Harald Schweim

„Dann bläst man die Sache so groß wie möglich auf“

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Berlin -

Risiken, Mängel, Fälschungen: 2014 war für die Apotheker auch geprägt von Rückrufaktionen. Immer wieder musste das Generalalphabet aufgeräumt werden, weil Behörden oder Hersteller Probleme entdeckt oder vermutet hatten. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) kassierte nach Tetrazepam mit MCP einen weiteren Schnelldreher, derzeit wird die Verkehrsfähigkeit von Ambroxol und Bromhexin überprüft. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sorgt derweil im Zusammenhang mit mutmaßlich gefälschten Zulassungsstudien für Aufregung. Im Interview mit APOTHEKE ADHOC erklärt der ehemalige BfArM-Präsident Professor Dr. Harald Schweim, woher die neue harte Linie kommt und welche Linie die Pharmakovigilanz wirklich braucht.

ADHOC: Warum sind die Aufsichtsbehörden derzeit so offensiv unterwegs?
SCHWEIM: Die Pharmakovigilanz ist die wichtigste Kontrollinstanz nach der Zulassung. Aber man muss schauen: Ist das Glas halb leer oder halb voll? Im Bereich der Pharmakovigilanz bedeutet das: Bewertet man den Nutzen oder die Risiken eines Arzneimittels mehr? Meine Befürchtung ist, dass sich die Situation allmählich zu Ungunsten der Patienten verändert. Bei alten Präparaten entdeckt man plötzlich Risiken und sie werden zurückgerufen. Dadurch entsteht aber ein höheres Risiko als durch das Medikament selbst.

ADHOC: Wie ist es zu dieser Verschiebung gekommen?
SCHWEIM: Der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) bei der EMA hat das Konkurrenzverhältnis zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden verändert. Früher ging es darum, wer am schnellsten neue Arzneimittel zugelassen hat. Heute werden viele Arzneimittel zentral zugelassen. Die Behörden müssen also ihre Existenzberechtigung nachweisen: In der EU gibt es fast 30 Behörden, in den USA eine. Alle diese Behörden versuchen, sich als Wächter der Patientensicherheit zu profilieren. Es gibt einen hohen Druck, die eigene Wichtigkeit zu beweisen.

ADHOC: Wie muss man sich das vorstellen?
SCHWEIM: Das macht man möglichst mit einem schwachen Gegner. Die großen Konzerne beschweren sich schnell beim Gesundheitsminister und bringen neue Arzneimittel heraus – es bleiben also als Gegner die Generikahersteller. Dann bläst man die Sache so groß wie möglich auf. Und wenn man übers Ziel hinausgeschossen ist, rudert man trotzdem nicht zurück.

ADHOC: Passt in dieses Schema das derzeitige Verhalten des BfArM?
SCHWEIM: Ich sehe die Tendenz, dass die Behörden Angst um ihre Existenz und die eigene Größe haben. BfArM und Paul-Ehrlich-Institut (PEI) wollen zeigen, dass sie ganze Kerle sind. Ihre Aktivitäten sind natürlich nicht vollkommen ohne Hintergrund: Die Studien waren – nach allem was man weiß – zweifellos gefälscht und genügten damit nicht für eine Zulassung. Die Präparate sind aber – nach Aussage des BfArM – nachweislich unproblematisch. Also muss man eigentlich nicht gleich die Keule heraus holen, um mit dem Thema Schlagzeilen zu erzwingen. Das BfArM hat selber die Steilvorlage für die Kritik an seinem Vorgehen gegeben.

ADHOC: Warum hat das BfArM so reagiert?
SCHWEIM: Es gibt das Gerücht, dass von politischer Seite angefragt wurde, warum die französische Behörde und nicht das BfArM die Mängel aufgedeckt hat. Da mussten die Deutschen auch noch einmal kräftig zuschlagen. Das mag verständlich klingen, ist aber trotzdem falsch.

ADHOC: Wie viel hängt von den Mitarbeitern und den Leitern der Behörde – und deren persönlichen Interessen – ab?
SCHWEIM: Heute sind häufig Leute mit einem Mangel an Souveränität bei den Behörden beschäftigt. Es fehlt an Anreizen: Gute Wissenschaftler gehen heute eher nicht in Behörden. Herr Schwerdtfeger [Anm. d. Red.: Walter Schwerdtfeger, BfArM-Präsident 2010-2014] ist Biologe und Honorarprofessor, arbeitete als Heilpraktiker. Unter ihm ist die Pharmakovigilanz vollkommen ausgeblutet. Sie war nicht mehr so gut aufgestellt wie früher zum Beispiel mit Peter Schönhöfer – der riecht vor allen anderen, wenn es irgendwo stinkt. Er ist einer der echten großen Pharmakritiker, und im Gegensatz zu Gerd Glaeske einer mit Substanz. Herr Broich ist eine ganze Ecke besser als Herr Schwerdtfeger, aber auch sein Umgang mit den Studienfälschungen war nicht sehr souverän.

ADHOC: Wie kann das BfArM besser werden?
SCHWEIM: Das Institut hat schwere Zeiten hinter sich. Dem BfArM muss eine Chance gegeben werden. Die Leute dürfen nicht unter permanentem politischen Druck stehen.

ADHOC: Welche Verantwortung trägt die Politik?
SCHWEIM: Die Politiker verstehen nicht viel von Arzneimitteln. Aber die Behörden müssen sich und ihre Existenzberechtigung beweisen. Und dass das BfArm als ein Schwerpunkt forschen soll, ist völliger Unsinn. Eine bedeutende Forschungseinrichtung waren wir nie und werden sie nie werden.

ADHOC: Auch in der Vergangenheit lief nicht alles rund beim BfArM. Wie war das noch bei Kava-Kava?
SCHWEIM: Beim ersten Kava-Beschluss war ich Leiter des BfArM. Damals lagen angeblich Beweise vor, dass eine Frau eine neue Leber brauchte, später verstarb. Daraufhin hatten wir entschieden, dass die Hersteller neue Studien liefern sollten. Nachdem ich das BfArM verlassen hatte, eskalierte die Lage im Streit mit Firmen und ihren Verbänden. Dann stellte sich heraus, dass die Sachlage doch anders war als ursprünglich angenommen. Die jüngste Entscheidung des Gerichts ist daher richtig und peinlich für das BfArM. Noch peinlicher aber ist, dass sie sich dagegen wehren wollen.

ADHOC: Nicht nur am BfArM gibt es Kritik, auch an europäischen Institutionen. Was lief bei MCP falsch?
SCHWEIM: Bei MCP wurde unsauber gearbeitet, es wurde auf Anwendungsfehler reagiert, die nicht dem Arzneimittel anzulasten sind. Die Dosierung, so wie sie im Beipackzettel steht, hat keine Probleme bereitet. Zum Vergleich: Man müsste alle Autos verbieten, nur weil man mit ihnen über Rot fahren kann. Außerdem wurde übersehen, dass fast alle Länder den Wirkstoff in niedriger Dosis auf dem Markt haben – bis auf Deutschland. Hierzulande kam es deshalb zu einer totalen Marktrücknahme. Da hätten die deutschen Behörden besser aufpassen müssen oder eine Chance schaffen müssen, das Produkt noch auf dem Markt zu lassen.

ADHOC: Gibt es systemische Fehler?
SCHWEIM: Erstens schauen die Behörden bei alten Arzneimitteln sehr genau hin. Zweitens gibt es den PRAC, auf den im Zweifel die Schuld geschoben werden kann. Früher hat das BfArM einen Rückruf angeordnet – war der falsch, war man dafür verantwortlich. Und drittens stimmen im PRAC Ländervertreter ab, die überhaupt nicht betroffen sind, weil das Produkt in ihrem Land gar nicht auf dem Markt ist. Die Mehrheit für den Rückruf von Tetrazepam beispielsweise ist nur zustande gekommen, weil Länder, in denen das Präparat nicht auf dem Markt war, für den Rückruf gestimmt haben.

ADHOC: Was muss sich ändern?
SCHWEIM: Der PRAC sollte mit Blick auf die Abstimmungen besser konstruiert sein. Außerdem sollten Regeln eingeführt werden, damit neue und alte Wirkstoffe – erfahrungsadäquat – betrachtet werden. Mit ASS zum Beispiel kann man Selbstmord begehen – trotzdem würde man es nie vom Markt nehmen, weil der Nutzen überwiegt, es seit 1977 auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO steht. MCP fehlte eine starke Lobby wie die von ASS. Und grundsätzlich muss man mit Augenmaß entscheiden. Die Leute in der Pharmakovigilanz müssen zur Wissenschaft und zur normalen Nutzen/Risiko-Bewertung zurückkehren.

ADHOC: Hängt das nur von den Behörden ab?
SCHWEIM: Das Ganze wird überspielt von politischen Einflüssen. Besonders in Deutschland spielt derzeit das Sparen im Gesundheitswesen eine große Rolle. Vielleicht wird bald wieder das Arzneimittel wichtiger, zum Beispiel, wenn ein Gesundheitsminister im Amt ist, der das Metier beherrscht.

ADHOC: Haben die Behörden inzwischen aus den Fehlern gelernt?
SCHWEIM: Nein, bei Ambroxol/Bromhexin ist die Situation dieselbe: Es werden zunehmend allergische Reaktionen öffentlich – aber die gab es von Anfang an. Im Verhältnis zu der Zahl der Anwendungen ist das Risiko allerdings lächerlich. Die aktuelle Prüfung ist eine totale Überreaktion. Das ist das Mittel Nummer 1 für Leute, die eine Schleimerkrankung haben, und darunter sind mit Asthmatikern auch Allergiker. Das ist ein weiterer Fall, bei dem übertrieben wird.

ADHOC: Manche Behörden, wie die in Frankreich und Belgien, scheinen besonders aktiv zu sein. Warum?
SCHWEIM: Die Behörde in Frankreich hat große Existenzängste. Frankreich ist ein zentralistisches Land; seit Bayer Cerivastatin vom Markt genommen hat, hat die Behörde dort besondere Probleme. Hinzu kommt eine lange Tradition, sich gegen Generika zu positionieren. Aber es sind nicht immer dieselben Behörden, die tätig werden. Aber es ist mit Sicherheit immer eine Behörde, die von etwas anderem ablenken will.

ADHOC: Wird es ewig so weitergehen?
SCHWEIM: In den USA beobachte ich eine Pendelbewegung, etwa alle drei bis fünf Jahre: Die Aufsicht ist erst zu streng, dann zu lasch, dann wieder zu streng. Der PRAC ist neu und muss sich noch beweisen. Man weiß nicht, was noch kommt – an welcher Stelle das Pendel steht und wie weit es ausschwingt. Es gibt viele Wirkstoffe, bei denen man noch etwas finden kann. Digitalis-Abkömmlinge zum Beispiel sind viel problematischer als die bislang bewerteten Wirkstoffe.

ADHOC: Wie sicher sind Neuzulassungen?
SCHWEIM: Mir kommen neue Arzneimittel zum Teil zu schnell auf den Markt. Zum Beispiel Pioglitazon, Actos. Eli Lilly musste in den USA Strafe zahlen, weil Krebsrisiken verschwiegen wurden. In Europa aber wurde das Arzneimittel anstandslos zugelassen. Auf der einen Seite stehen Uralt-Arzneimittel mit riesigen Erfahrungen, auf der anderen Seite neue Arzneimittel – oder auch kleine Firmen gegen große Firmen.

ADHOC: Wo sollte denn die Reise hingehen?
SCHWEIM: Manche Wissenschaftler machen ihren eigenen Kreuzzug, wie beispielsweise Kay Brune mit Paracetamol. Mein derzeitiger Eindruck seiner aktuellen Studie ist: Das ist nichts Neues. Aber die Medien greifen es auf. Schließlich ist an den Vorwürfen immer was dran. Denn es gibt kein nebenwirkungsfreies Arzneimittel, ansonsten kann es auch nicht wirken. Aber es wird zu sehr in Richtung Risiko gedacht, nicht in Richtung Nutzen. Das muss sich ändern. Paracetamol beispielsweise ist das einzige Schmerzmittel, dass Frauen in der Schwangerschaft nehmen können und für das es ein Antidot gibt. Es ist falsch, ausgerechnet auf die Arzneimittel einzuschlagen, die schon lange im Handel sind.

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