„Mehr als 1000 Euro“

AOK-Ärger: Saftige Streichung der Festbetragsdifferenz

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Berlin -

Apotheken sind wegen der Lieferengpässe eigentlich berechtigt, die Mehrkosten für verfügbare Arzneimittel, die den Festbetrag übersteigen, den Krankenkassen in Rechnung zu stellen. Henry Schwabe, Inhaber der Glück-Auf Apotheke Sangerhausen, wird nun aber von der AOK Sachsen-Anhalt dazu aufgefordert, entsprechende Nichtverfügbarkeitsnachweise des Großhandels zu erbringen – und zwar in jedem einzelnen Fall. „Das sind mehrere hundert Positionen“, ärgert er sich. Dabei steigt die Kasse im Retax-Schreiben vergleichsweise milde ein: „Das Thema Lieferdefekte beschäftigt die Apotheken, aber auch die AOK Sachsen-Anhalt.“

Schwabe erhält ein Schreiben der AOK Sachsen-Anhalt zur Prüfung der Rezeptabrechnung. Ihm wird ein Wert von über 1000 Euro beanstandet: „Im ersten Quartal 2023 haben Sie die Festbetragsdifferenzen zu Lasten der AOK Sachsen-Anhalt abgerechnet. Im Interesse unserer Solidargemeinschaft sind wir gehalten, die Nichtverfügbarkeit zum Abgabezeitpunkt festzustellen“, heißt es. „Mir wurden knapp 1300 Euro brutto gestrichen“, ärgert sich der Apotheker.

„Seit 2020 hat der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, dass ausnahmsweise Festbetragsdifferenzen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen von der Apotheke abgerechnet werden können“, so die Kasse. Voraussetzung dafür sei, dass „alle Rabattartikel und auch keine mehrkostenfreien Alternativpräparate lieferbar sind“. Grundlage dafür: Die Regelung in §129 Absatz 4c SGB V, es gelten die Bestimmungen des § 11 Absatz 3 des Rahmenvertrages. „Ist bei einer Abgabe nach Absatz 2 kein Fertigarzneimittel zum Festbetrag verfügbar, trägt die Krankenkasse abweichend von § 31 Absatz 2 Satz 1 die Mehrkosten.“

Es handele sich bei diesem Schreiben um eine Taxbeanstandung und somit um die Anzeige von Taxdifferenzen, bei denen Fertigarzneimittel über Festbetrag mit der Kasse abgerechnet wurden. „Die ausgewiesenen Absetzungsbeträge wurden von uns noch nicht einbehalten“, so die AOK.

„Mir wurde die Möglichkeit eingeräumt in den Widerspruch zu gehen, aber ich solle dann alle Defektbelege zu sämtlichen Alternativen des über Festbetrag abgegebenen Arzneimittels der Kasse zusenden“, so Schwabe. „In meinem Fall hat diese Liste hunderte Positionen. Konkret im Falle des Arzneimittels Duodart, von dem zeitweise nur noch der Originalanbieter lieferbar war, muss ich von 25 Generikaanbietern und zwei Großhandlungen entsprechende Nachweise erbringen“, so der Inhaber fassungslos. Die AOK sei die Hauptkasse in seinem Landkreis: „Die meisten Kunden und Kundinnen sind bei dieser Kasse versichert“, so der Inhaber.

Schwabe erkundigt sich daraufhin auch beim Landesapothekerverband: „Nach Rücksprache habe ich erfahren, dass nicht alle Apotheken solche Retaxationen erhalten haben. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich mich über diese Kasse ärgere. Es ist die einzige Krankenkasse, die sogar Centbeträge aus Rezepturherstellungen zurückholt“, so der Inhaber, der nun fragt: „In welchem Verhältnis stehen denn solche Retaxationen zum Aufwand und zu dem von der AOK Sachsen-Anhalt beschworenen Solidargedanken, wenn Zeit, Geld und Mitarbeiterressourcen für die Eintreibung solcher Beträge verschwendet werden?“

Laut Schwabe ist es „hinlänglich bekannt und sollte nach Jahren mittlerweile auch bei den Entscheidungsträgern der Krankenkassen angekommen sein, dass man sehr große Mühe haben, überhaupt eine Versorgung aufrechtzuerhalten“. Mehr noch: „Diese Situation ist nicht zuletzt deshalb so eskaliert, weil die Hersteller sich sehr genau überlegen, ob sie ihre Arzneimittel überhaupt noch nach Deutschland liefern, wenn die Rabattverträge und Festbeträge der Krankenkassen für Generika kaum noch auskömmliche Erträge generieren“, so Schwabe.

Die Politik müsse endlich begreifen, dass „die Macht der Krankenkassen wieder eingehegt“ werden muss. „Die Verwaltungen der Krankenkassen leisten nicht die Arbeit vor Ort und die Versorgung am Patienten. Die Apotheken und Arztpraxen bluten personell aus, weil die Krankenkassen für gleiche berufliche Qualifikationen 30 bis 60 Prozent höhere Gehälter ausloben“, so der Apotheker. Es sei schon lange keine Partnerschaft mehr auf Augenhöhe in der Selbstverwaltung: „Wir bekommen Vorgaben der Krankenkassen diktiert, oft ohne Sinn und Verstand. Aber mit dem Kalkül, bei kleinsten Fehlern sich das Geld zurückzuholen“, so Schwabe.

„Ich betrachte diese Vorgehensweise der AOK Sachsen-Anhalt als Schikane, gleichwohl bin ich meiner gesetzlichen Pflicht nachgekommen“, so der Apotheker. Mehr noch: „Ja, es kann sein, dass mir auch Fehler unterlaufen sind. Verfügbarkeiten bei Großhandlungen sind manchmal nur wenige Stunden am Tag gegeben. Da alle Apotheken das gleiche Problem haben, kommt es vor, dass wir an diesen Tagen eben zu spät bestellt haben und die Ware schon wieder raus war“, gibt er zu Bedenken.

„Glaubt die AOK wirklich, dass Apotheken freiwillig den Krankenkassen Mehrkosten in Rechnung stellen, wenn wir doch ganz genau wissen, wie hoch das Retaxrisiko ist“, fragt sich Schwabe. Dabei sei ihm nur eines besonders wichtig: „Wir versorgen die Patienten, das hat für uns oberste Priorität.“ In den Widerspruch ist der Inhaber bereits gegangen: „Aber das kann dauern, bis da eine Antwort kommt.“

Auf Nachfrage bestätigt die AOK: „Es ist richtig, dass die AOK Sachsen-Anhalt stichprobenhaft Apotheken im Rahmen des Abrechnungskorrekturverfahrens angeschrieben hat, die im 1. Quartal 2023 Festbetragsdifferenzen zu Lasten der Krankenkasse abgerechnet haben“, so eine Sprecherin. In diesen Fällen sei die Liefersituation intransparent gewesen, weshalb man um „Defektnachweise gebeten“ habe. „Die Preise lagen teilweise 200 Euro über dem Festbetrag, und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir in den uns als gesetzliche Krankenkasse zugänglichen Quellen keine Lieferdefektmeldung zu rabattierten oder wirkstoffgleichen Präparaten unter Festbetrag feststellen konnten.“

Die Kasse nehme diese „Kontrollaufgabe“ sehr ernst, da es „unser gesetzlicher Auftrag ist, mit den uns anvertrauten Beitragsgeldern von Versicherten und Arbeitgebern wirtschaftlich umzugehen“, so die Sprecherin. Grund sei auch der horrende Betrag: „Allein für 2023 rechnen wir mit rund 1,5 Millionen Euro Mehrkosten aufgrund der Abrechnung von Festbetragsdifferenzen.“

Die erschwerte Liefersituation von Arzneimitteln sei bekannt: „Diese beschäftigt sowohl die Apotheken als auch die AOK Sachsen-Anhalt. Aus diesem Grund haben wir auch mit dem Landesapothekerverband verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie wir bei unklaren Liefersituationen mit dem Erbringen von Defektbelegen umgehen“, so die Sprecherin. „Im Ergebnis der gemeinsamen Abstimmung erfolgte jetzt eine stichprobenhafte Abfrage einzelner Apotheken.“

Im Abrechnungskorrekturverfahren würde „lediglich eine Abrechnungskorrektur gegenüber der Apotheke angekündigt“,heißt es: „Ein Vollzug der Abrechnungskorrektur würde nur in den Fällen nachträglich erfolgen, bei denen keine vollständigen Defektnachweise erbracht werden.“ Die AOK Sachsen-Anhalt gehe jedoch zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass die Defektnachweise bei den Apotheken vorliegen, so die Sprecherin.

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