Sachverständigenrat

Gesundheitsweise loben Rx-Versand

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Berlin -

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) lehnt ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ab. Daran hat auch das EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2016 nichts geändert. In ihrem aktuellen Gutachten plädieren die Wissenschaftler dafür, Apotheken intensiver in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen und Apotheken Aufgaben in der Prävention, beim Impfen und in der integrierten Versorgung zu eröffnen.

Das Rx-Versandverbot ist nicht Gegenstand des aktuellen Gutachtens zur „Bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung“. Auf Nachfrage erklärte Professor Dr. Eberhard Wille allerdings: „An unserer Meinung hat sich nichts geändert. Wir lehnen ein Verbot ab.“ Wille verwies auf ein früheren Gutachten des SVR. Im Jahr 2014 sprach sich der Rat für eine weitgehende Deregulierung des Apothekenmarktes aus. Der Versandhandel könne gerade in Regionen mit geringer Apothekendichte monopolartige Gefahren bei der Arzneimittelversorgung verhindern, heißt es darin sinngemäß. Außerdem sprachen sich die Wissenschaftler darin für ein begrenztes Dispensierrecht von Ärzten aus und für die Lockerung des Fremd- und Mehrbesitzverbots: Dieses sei ein „Relikt mittelalterlicher Zunftstrukturen“.

Die Aufhebung des Fremd­besitzverbotes und eine völlige oder erweiterte Öffnung des Mehrbesitzes ermöglichten die Bildung von finanzstarken Apothekenketten und damit die Transformation des deutschen Apothekenmarktes von seiner atomistischen in Richtung einer oligo­polisti­schen Struktur. „Die Apotheken können dann durch eine Zentralisierung bestimmter Aufgaben effizienter arbeiten. Die größere Menge an Informationen über ihre Patienten ermöglicht, Arzneimittelrisiken eher zu erkennen und schneller auf diese zu reagieren. Schließlich eröffnen Apothekenketten ein breiteres Betätigungsfeld für Apotheker, die lieber als Angestellte beziehungsweise Teilzeit arbeiten möchten“, hieß es vor vier Jahren.

In einem FAZ-Streitgespräch legte Wille nach dem EuGH-Urteil nach: „Letztlich hilft der Versandhandel bei der Versorgung entlegener Gebiete. Wenn wir den abschaffen, liefen wir vielmehr in Gefahr, die Versorgung zu schwächen. Denn wenn trotz eines Verbotes Apotheken in entlegenen Gebieten schließen müssten, stünde auch der Versandhandel nicht mehr zur Verfügung.“ Wille sieht nicht die Gefahr von Versorgungslücken: Denn auf dem Land sei die Wettbewerbsintensität unter Apotheken vergleichsweise gering, deshalb werde dort mehr Wettbewerb auch kaum zu Schließungen führen. Höher sei der Wettbewerbsdruck dagegen in den gut versorgten Städten. Dort gebe es auch dann kein Versorgungsproblem, wenn Anbieter aus dem Markt gingen. „Die Angst, dass in den strukturschwachen Gebieten die Versorgung gefährdet wird, erscheint mir weitgehend unbegründet“, sagte Wille der FAZ.

Intensiver einbinden will der Sachverständigenrat die Apotheke in die niedrigschwellige Versorgung. Dazu sollten Apotheken als „gleichberechtigter Partner an der besonderen Versorgung nach § 140a SGB V“ zugelassen werden. Laut Wille kämen dafür Aufgaben bei der Prävention und beim Impfen in Frage, wie es dies in vielen anderen Ländern gebe. Apotheken könnten zudem so in die integrierte Versorgung beispielsweise bei der Medikationsberatung eingebunden werden. Wille: „Die Kapazitäten der Apotheken werden heute nicht hinreichend ausgeschöpft.“

Darüber hinaus befasst sich das aktuelle Gutachten insbesondere mit fehlenden Arztpraxen auf dem Land und zu vollen Notaufnahmen. Die Berater der Bundesregierung empfehlen hierzu eine grundlegende Neuorganisation des Gesundheitsangebots. Trotz vielfältiger Reformen gebe es im System weiterhin Über-, Unter- und Fehlversorgung, sagte der Vorsitzende des SVR, Professor Dr. Ferdinand Gerlach. Nötig sei eine gezieltere Steuerung. Patienten sollten besser informiert und durch das sehr komplexe Gesundheitswesen gelotst werden.

Der Sachverständigenrat präsentierte eine Reihe von Vorschlägen für eine effektivere Planung des Angebots, das auch stärker verzahnt werden sollte. „Vor allem Kliniken und Praxen, zwischen denen eine unsichtbare, aber sehr folgenreiche Mauer verläuft, arbeiten in Deutschland eher nebeneinander als im Interesse des Patienten miteinander“, heißt es in dem Gutachten. Eine entscheidende Rolle bei der Steuerung sollten Hausärzte und neue zentrale Stellen spielen, die Patienten zu Praxen oder Notaufnahmen leiten.

Die Planung der Arztpraxen sollte sich aus Sicht der Experten weniger an der Anzahl der Ärzte, sondern am tatsächlichen Angebot und den Arbeitsstunden orientieren. Es solle unterbunden werden, dass Praxen in begehrten Gebieten teils zu weit überzogenen Preisen an Nachfolger verkauft werden. Wo sich ein Mangel abzeichnet, weil viele Ärzte aufhören, sollten Nachbesetzungen fünf Jahre vor der voraussichtlichen Praxisaufgabe geklärt werden. Als Anreiz für dünn besiedelte Regionen mit eher wenig Patienten könnten „Landarztzuschläge“ von bis zu 50 Prozent auf die Vergütung dienen.

Schon lange ist es ein vertracktes Problem, wie Patienten – auch je nach Schwere ihrer Beschwerden – gezielter in die verschiedenen Gesundheits-Anlaufstellen „verteilt“ werden können. Besser wäre, dass Patienten immer erst zum Hausarzt gehen, der auch weitere Überweisungen zu Fachärzten oder ins Krankenhaus koordinieren kann. Als Anreiz sollten alle Kassen ihren Versicherten vergünstigte Wahltarife für Hausarzt-Modelle anbieten. Die Experten schlagen erneut vor, eine „Kontaktgebühr“ dafür zu prüfen, wenn Patienten ohne Überweisung zum Facharzt gehen. Die Höhe müsste die Politik klären. Ausgenommen sein sollten etwa Augenärzte, Frauenärzte und Psychiater.

Damit sich Patienten im komplizierten System besser zurechtfinden, brauchen sie mehr Informationen – nicht zuletzt dadurch, dass Ärzte mehr Zeit haben, direkt mit ihnen zu sprechen. Die Experten schlagen dazu ein „nationales Gesundheitsportal“ und mehr Gesundheitsbildung in der Schule vor. Künftige digitale Angebote wie elektronische Patientenakten müssten nutzerfreundlich sein – gerade auch für ältere Menschen und zum Beispiel Migranten. Überfüllte Notaufnahmen mit stundenlangem Warten und überlastetem Personal sind in Kliniken ein großen Problem. Dorthin kommen zusehends auch Menschen mit eher harmlosen Beschwerden.

Die Sachverständigen schlagen daher vor, dass alle Bürger künftig rund um die Uhr „integrierte Leitstellen“ anrufen können. Die legen dann den „Versorgungspfad“ fest – vom Notarzt mit Blaulicht bis zum Hausbesuch des Bereitschaftsarztes. Können akut behandlungsbedürftige Patienten noch gehen, sollen sie kurzfristig einen Termin in einer Praxis oder einem „integrierten Notfallzentrum“ einer Klinik bekommen. Dort wird an einem zentralen Empfang entschieden, ob sie ein niedergelassener Arzt oder ein stärker spezialisierter Klinikarzt weiterbehandelt.

Statt an der Bettenzahl sollte sich die Planung der knapp 2000 Kliniken mehr an den vorgesehenen Leistungen orientieren. Stärker einzubeziehen seien auch die Alterung der Gesellschaft und die Entwicklung von Patientenwünschen. Für den Umbau des Angebots mit stärkerer Zentralisierung und Spezialisierung von Kliniken sollte der Bund Steuergeld geben und Mitplanungsrechte bekommen. Vor Eingriffen, die für Kliniken sehr lukrativ sind, sollte immer erst eine zweite Arzt-Meinung eingeholt werden müssen. Bei der Entlassung sollten Patienten Medikamente für bis zu eine Woche mitbekommen können.

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