Frankfurter Start-up

Algea: Telemedizin für Cannabis-Patienten

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Berlin -

Für viele Chroniker und Schwerkranke ist medizinisches Cannabis die letzte Hoffnung auf Linderung ihrer Leiden – doch der Weg zu Rezept und Therapie ist oft lang und beschwerlich. Patienten müssen oft große Mühen und Strecken auf sich nehmen, um einen Arzt zu finden, der verordnet und sie bei der Therapie begleitet. Ein Frankfurter Start-up will da Abhilfe schaffen und hat aus dem Engpass ein Geschäftsmodell gemacht: Algea Care bietet austherapierten Patienten Zugang zu Cannabisverordnungen und Therapiebegleitung via Telemedizin.

Medizinisches Cannabis hat nach wie vor einen schweren Stand in Deutschland. Auch wenn sich der Markt langsam sortiert hat und die schlimmsten Engpässe ausbleiben, ist es für viele Patienten nach wie vor nicht leicht, an eine Therapie zu gelangen: Blüten, Dronabinol und Co. werden nach wie vor ziemlich restriktiv gehandhabt, vor allem die Kassen und ihr MDK wachen oft mit Argusaugen darüber, ob sie die Behandlung auch wirklich Zahlen müssen. Das landet dann auch schon mal vor Gericht. Doch um so weit zu kommen, muss ein Patient erst einmal einen Arzt finden, der sich bereit erklärt, ihm zu helfen.

„Schätzungsweise weniger als zwei Prozent der praktizierenden Ärzte verordnen medizinisches Cannabis und sehen sich in der Lage, die Therapie angemessen zu begleiten“, sagt Algea-Gründer Dr. Julian Wichmann. „Das ist ein Stückweit auch verständlich, denn es handelt sich nach wie vor um ein relativ neues und vor allem um ein sehr komplexes Thema, an dem sehr viele Begleitthemen hängen. Beispielsweise muss man als verschreibender Arzt auch den Bestand in Apotheken im Auge behalten und bei rechtlichen Themen über Expertise verfügen.“ Wichmann ist eigentlich Radiologe und kommt aus der Unimedizin, zu Algea Care brachte ihn Anna Kouparanis.

Die ist nicht neu im Cannabisgeschäft und suchte jemanden, mit dem sie ihre Geschäftsidee umsetzen kann. „Ich bin schon seit Längerem in der Branche unterwegs und habe diese Lücke gesehen, die wir jetzt schließen“, erzählt Kouparanis, deren Nachname Branchenkennern ohnehin vertraut sein sollte: Ihr Bruder Niklas Kouparanis war bis vergangenes Jahr Geschäftsführer des Cannabisgroßhändlers Farmako.

„Ich war zuvor die erste weibliche Gründerin eines Cannabis-Großhändlers und habe danach für Algea Care einen Co-Founder mit medizinischer Expertise gesucht, den ich dann über gemeinsame Freunde mit Dr. Wichmann gefunden habe.“ Im Juni wurde das Unternehmen gegründet, drei Monate später ging es dann in der ersten Niederlassung in Frankfurt los, es folgten weitere in Berlin und München, mittlerweile ist gar eine weitere Expansion mit Standorten in Hamburg, Köln und Stuttgart geplant. „Wir betreten mit unserem Businessmodell komplettes Neuland und haben ein Alleinstellungsmerkmal, als erster Telemedizinanbieter, der auch nach Betäubungsmittelgesetz regulierte Medikamente wie Cannabis verschreiben kann.“ Die schnelle Expansion hat dabei nach Aussage der beiden Gründer vor allem einen Grund: Die Nachfrage war von Beginn an erdrückend.

„Als wir im September in Frankfurt gestartet sind, wurden wir von der Nachfrage aus der ganzen Republik überrannt. Patienten kamen teilweise aus München oder Hamburg zu uns“. Erzählt Kouparanis. „Bisher sind wir nur sehr wenig in die Öffentlichkeit getreten, um unser Geschäftsmodell in Ruhe weiterentwickeln und skalieren zu können – sonst hätten wir den Ansturm zu Beginn nicht bewältigen können.“ Mittlerweile, nur ein gutes Vierteljahr nach Betriebsbeginn hat Algea Care 32 Mitarbeiter, zehn davon Ärzte, die über 500 Patienten betreuen. „Wir wachsen wöchentlich“, sagt Kouparanis und Wichmann ergänzt: „Das Gros sind bisher sicherlich Patienten, die aktiv nach einer Therapie suchten. Das führte dazu, dass Patienten im Schnitt zwei weitere Patienten an uns weitervermitteln, weil es gerade unter Chronikern aktive Netzwerke gibt, in denen sich Patienten austauschen und gegenseitig helfen.“ Eine zunehmende Rolle spielten dabei aber auch vermittelnde Ärzte: „Wir haben immer mehr Zuweiser, die sagen, sie würden Patienten Cannabis empfehlen, haben aber selbst nicht genug Expertise in dem Bereich.“

Diese Patienten können dann bei Algea Care einen Termin für ein Erstgespräch vereinbaren, das stets vor Ort stattfinden soll – deshalb die Standort-Expansion. Zuvor erhalten sie ausführliche Anamnesebögen, die sie selbstständig ausfüllen, die notwendigen Therapie-Unterlagen beilegen und dann an die Ärzte schicken müssen. Die prüfen dann die Unterlagen, bevor ein Arztgespräch vereinbart wird. „Das hat den Vorteil, dass die Patienten bequem von Zuhause alle Unterlagen fertigstellen und die Ärzte sich vorab in Ruhe dem jeweiligen Fall widmen können“, sagt Wichmann. „Im Erstgespräch können sich dann beide auf die wirklich wichtigen Themen konzentrieren. Wir arbeiten da sicherlich gründlicher als der Durchschnitt der Ärzteschaft, weil unser Team die Ärzte bei Papierkram und zeitraubender Organisation stark entlastet.“

Das Unternehmen arbeitet rein privatärztlich, habe aber größtenteils Kassenpatienten – ein Erstgespräch koste zwischen 100 und 140 Euro. Es sei damit weitaus günstiger als bei anderen Privatärzten. „Wir bieten die Räumlichkeiten und sind stets auf der Suche nach neuen Ärzten“, so Kouparanis. Die Ärzte kommen aus verschiedenen Fachbereichen von Anästhesie bis Psychiatrie und werden laut Kouparanis vor ihrem Einstieg umfassend weitergebildet. Sie arbeiten in Teilzeit für das Start-up und haben meist noch eine eigene Praxis oder Anstellung, was neben der medizinischen Expertise auch den Vorteil habe, dass sie unterschiedliche Erfahrungen einbringen können. „Wir sind keine reine Arztpraxis, sondern ein Telemedizinanbieter, aber wir legen Wert darauf, dass die Erstgespräche in der Praxis stattfinden“, sagt Kouparanis. „Denn der Start einer guten Arzt-Patient-Beziehung sollte persönlich vor Ort sein. Wir sehen uns als Full-Service-Provider, der die Patienten von der Erstverordnung bis zum Therapieverlauf komplett begleitet.“

Denn nach dem Ersttermin und der Verordnung verspricht Algea Care eine engmaschige Betreuung per Videosprechstunde. „Im Schnitt hat ein Patient dann alle vier bis sechs Wochen einen Folgetermin. Das ist auch notwendig, weil es sich um ein sehr komplexes Arzneimittel handelt, bei dem man den Therapieverlauf engmaschig betreuen und oft auch anpassen muss“, erklärt Wichmann. Die Bedeutung dieser Betreuung erschließe sich ihm schon aus der eigenen klinischen Erfahrung. „Ein Problem, das ich in der Medizin immer wieder beobachtet habe: Wenn das Arzneimittel erstmals verabreicht wird, sind die Nebenwirkungen noch nicht da. Wenn die Nebenwirkungen da sind, ist der Arzt aber schon weg. Deshalb ist die therapeutische Begleitung gerade bei chronischen Erkrankungen und auch bei einem so komplexen Arzneimittel wie Cannabis so wichtig.“

Auch Apothekern, Ärzten und Forschern könne Algea Care mittelbar behilflich sein: Denn die Datenlage zu Wirkungen und Nebenwirkungen von medizinischem Cannabis ist auch Ende 2020 noch nicht befriedigend. „Ein großes Problem im Cannabisbereich ist, dass der Datenfluss sehr restriktiv gehandhabt wird“, erklärt Wichmann. „Da glauben wir, mit unserem Modell ebenfalls aushelfen zu können. Wir haben in der kurzen Zeit schon Wissen zu spezifischer Wirkung bei bestimmten Indikationen und möglichen Nebenwirkungen gesammelt, die in noch keinem Lehrbuch stehen. Den Ausbau dieses pharmazeutischen Wissens wollen wir mit Algea Care ebenfalls vorantreiben.“

 

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