Autorenteam fordert Strategiewechsel

Corona-Maßnahmen: Glaeske zerlegt Zahlen der Politik

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Berlin -

Die Autorengruppe um Professor Dr. Gerd Glaeske, BKK-Chef Franz Knieps, Professor Dr. Klaus Püschel und sechs weitere Mediziner und Wissenschaftler fordert einen Strategiewechsel bei der Eindämmung der Covid-19-Pandemie. In ihrem mittlerweile sechsten Thesenpapier üben sie scharfe Kritik an der Datengrundlage, auf der die Entscheidungen zu Einschränkungen des öffentlichen Lebens getroffen werden, und fordern einen „zivilgesellschaftlichen Aufbruch, der den Schutzgedanken in den Mittelpunkt stellt, die gesellschaftliche Innovationskraft fördert und die Bürgerinnen und Bürger nicht zum Adressaten von Aufforderungen zur passiven Kontaktminimierung degradiert“.

Auf welcher Grundlage trifft die Politik Entscheidungen über Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens? Die Debatte über diese Frage ist hierzulande so alt wie die Coronakrise selbst. Das Autorenteam um Glaeske und Knieps hat dazu nun ein 50-seitiges Thesenpapier vorgelegt, das mit dem bisherigen Vorgehen hart ins Gericht geht. „Die derzeit verwendeten Grenzwerte ergeben ein falsches Bild und können nicht zu Zwecken der Steuerung und für politische Entscheidungen dienen“, heißt es da. Bei den derzeitig verwendeten Grenzwerten, die auch in der Novelle des Infektionsschutzgesetzes aufgenommen wurden – also beispielsweise 35 Fälle auf 100.000 Einwohner – fehle in erster Linie die Zuverlässigkeit der Messung, da sie nicht von der Dunkelziffer abgrenzbar sind. Die liege den Ergebnissen der bisher durchgeführten Seroprävalenzstudien zufolge zwischen Faktor 2 und Faktor 6 im Vergleich zu den kumulativen Befunden aus der PCR-Diagnostik.

„Den Richt- und Grenzwerten, die lediglich auf den Meldungen der Infektionen nach Testungen beruhen, kann in der Konsequenz damit keine tragende Bedeutung zugemessen werden, da sie nicht zuverlässig zu bestimmen sind“, schreiben die neun Autoren. Unzuverlässige Grenzwerte könnten auch nicht valide sein und deshalb nicht sinnvoll angewendet werden, „weil sie nicht das messen, was sie messen sollen“. Weiterhin seien Zielvorgaben wie die Unterschreitung der Schwelle von 50 Fällen auf 100.000 Einwohner unrealistisch und verletzten daher das zentrale Gebot der Erreichbarkeit.

Stattdessen schlagen sie zwei neue Steuerungsinstrumente vor, die zwar angesichts fehlender Kohorten-Studien auch nicht auf die Melderate nicht verzichten können, diesen fehleranfälligen Wert jedoch durch andere Parameter aussagekräftiger machen sollen: Der neu entwickelte „Notification Index“ (NI) beschreibt demnach die Dynamik der Entwicklung auf nationaler oder regionaler Ebene. Er setzt die Melderate (M „x Fälle/100.000 Einwohner“) und die Rate positiver Testbefunde (T+) zur Testhäufigkeit (Tn) und zu einem einfachen Heterogenitätsmarker (H) in Bezug und soll so erlauben, den Bias (beispielsweise durch die Testverfügbarkeit oder durch das Auftreten eines einzelnen großen Clusters) auszugleichen. Der zweite Index soll demnach der „Hospitalisierungs-Index“ (HI) die Belastung des Gesundheitssystems in einer Region beschreiben und berechnet sich als Produkt von NI und der Hospitalisierungsrate.

Überhaupt sei es wichtiger, auf andere Werte wie die Hospitalisierungsrate zu schauen. Die sinke nämlich beziehungsweise stabilisiere sich trotz steigenden Alters der Infizierten. Auch die Beatmungsrate sinke seit Beginn der Pandemie und insbesondere nehme die Mortalität ab, sowohl bei den Intensivpatienten als auch in den Kollektiven der Mitarbeiter in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Betreuungseinrichtungen. „Es ist sicherlich sinnvoll, im Rahmen einer Neuorientierung der Gesamtstrategie hin zu einem zugehenden Schutzkonzept auch positive Entwicklungen hervorzuheben“, so die Autoren.

Denn, so eine der Forderungen des Thesenpapiers, die Politik müsse diesen differenzierteren Erkenntnissen Rechnung tragen. „Aus diesem Grund wiederholt und verstärkt die Autorengruppe ihren Appell, den Grundsatz jeder Prävention, nämlich die Ergänzung allgemeiner Maßnahmen durch Zielgruppen-spezifische Maßnahmen, stärker zu berücksichtigen.“ Denn was bisher geschehe, sei lediglich die Umrechnung der Testprävalenzen auf die Gesamtbevölkerung oder Region.

Die Forderung nach differenzierteren Maßnahmen ist dabei nicht neu. Bereits im April forderten Glaeske und seine Kollegen das in einem vorherigen Thesenpapier. Der allgemeine Shutdown müsse durch spezifischere Maßnahmen ersetzt, die der Natur der Pandemie genauer Rechnung tragen, hieß es damals. Dies würde demnach nicht nur die Kollateralschäden verringern, sondern auch eine effektivere Seuchenbekämpfung ermöglichen. Ältere Menschen müssten demnach größtmöglichen Schutz vor Ansteckung erhalten, aber auch Hilfen bei der Versorgung, ärztliche und pflegerische Versorgung vor Ort mit Schutzmaßnahmen, aber auch lokale Maßnahmen wie ein Slot von zwei Stunden zum Einkaufen mit selektiver Zurückhaltung der jüngeren Bevölkerung seien sinnvoll. Nachgerüstet werden müsste demnach insbesondere in den Gesundheitseinrichtungen, von der Stratifizierung der Isolierung und Unterstützung nach Maßgabe der individuellen Komorbidität bis hin zur Gestaltung des nosokomialen Kontakts: So müssten unter anderem Kenntnisse und Strategien aus dem Infection-Control-Bereich verstärkt in die Krankenversorgung und Pflege übernommen, Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter priorisiert und getrennte Versorgungsbereiche eingerichtet werden.

 

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