ICD-11 Katalog

WHO deklariert Spielsucht als Krankheit

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Berlin -

Computer- oder Videospielen gilt nach einem neuen Verzeichnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO) demnächst als Krankheit. Gaming Disorder oder Online-Spielsucht wird in den neuen Katalog der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen, wie die WHO beschlossen hat, hinter Glücksspielsucht. Der Katalog erscheint am 18. Juni.

Die Aufnahme ist unter Wissenschaftlern umstritten. Spieler könnten dadurch grundlos als therapiebedürftig stigmatisiert werden, sagen sie. Vladimir Poznyak vom WHO-Programm Suchtmittelmissbrauch widerspricht. Die Abgrenzung zwischen Spielspaß und Sucht sei klar definiert, so Poznyak. Der Katalog dient zum einen Ärzten als Hilfe bei der Diagnose. Zum anderen nutzen Krankenkassen ihn oft als Grundlage für Kostenübernahmen.

Die 11. Auflage des Katalogs „International Classification of Diseases” (ICD-11) muss formell noch von der Weltgesundheitsversammlung im kommenden Frühjahr abgesegnet werden. Das gilt als Formalität. Der Katalog enthält tausende Krankheiten. Die 10. Auflage stammte aus dem Jahr 1992 und ist laufend aktualisiert worden.

Bei den Wissenschaftlern ist die neue Krankheit umstritten. Die Befürworter von Spielsucht als Krankheit können viele gestörte Patienten anführen, sogar Todesfälle. Ein 24-Jähriger in Shanghai starb 2015 nach 19 Stunden nonstop „World of Warcraft”, ein taiwanesischeer Teenager starb 2012 nach 40 Stunden „Diablo 3”, 2017 starb ein 35-jähriger Amerikaner bei einem „World of Tanks”-Marathon.

Andere Wissenschaftler halten die Klassifikation als Krankheit für überzogen. Wer beim Spielen schon mal etwas Anderes habe schleifen lassen - Hausputz, Aufräumen oder andere lästige Arbeit - müsse dringend zum Arzt, ätzte der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt sarkastisch, als die Pläne der WHO vor einem Jahr ans Licht kamen. „Sie könnten ernsthaft krank sein! ... Den umtriebigen Blogger von nebenan sollten Sie vorsorglich auch melden, damit er zwangseingewiesen wird.” Viel Online-Spielen als Sucht zu definieren, könne zum Dammbruch werden, warnt er: „Von Handy-Sucht bis Social-Media-Depression wäre vieles als eigenständige ,Medien'-Krankheit denkbar. In der Folge wären zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene qua Definition von heute auf morgen therapiebedürftig.”

Der Psychologe Andy Przybylski von der Universität Oxford warnte mit rund 30 Kollegen in einem offenen Brief vor dem WHO-Schritt. „Es besteht das Risiko, dass solche Diagnosen missbraucht werden”, schrieben sie. Geprüft werden müsse, ob bei exzessiv spielenden Patienten nicht eher zugrundeliegende Probleme wie Depression oder soziale Angststörungen behandelt werden müssten.

Vladimir Poznyak vom WHO-Programm Suchtmittelmissbrauch sieht das ganz anders. Im ICD-11 werden drei Kriterien genannt: entgleitende Kontrolle etwa bei Häufigkeit und Dauer des Spielens, wachsende Priorität des Spielens vor anderen Aktivitäten und Weitermachen auch bei negativen Konsequenzen. „Spielsüchtig ist jemand, der Freunde und Familie vernachlässigt, der keinen normalen Schlafrhythmus mehr hat, sich wegen des ständigen Spielens schlecht ernährt oder sportliche Aktivitäten sausen lässt”, sagt er. Dem Spieler mache es auch keinen Spaß mehr, aber er komme nicht davon los.

„Wir finden es problematisch, wenn das Spielen pathologisiert und die Spieler stigmatisiert werden”, sagt der Geschäftsführer des Verbands Game, Felix Falk. Der Verband deckt nach seinen Angaben mit rund 200 Mitgliedern wie Entwicklern und Grafikern mehr als 90 Prozent der deutschen Games-Branche ab. „Einige wenige Menschen spielen exzessiv und das ist problematisch”, räumt er ein. Da helfe der Elternratgeber der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), die unter anderem Altersfreigaben für Spiele macht. „Für Kinder und Jugendliche ist je nach Alter eine Begrenzung von 20 bis 120 Minuten am Tag sicher sinnvoll”, sagt Falk. „Aber Eltern sollten auch flexibel sein und nicht mitten im Spiel abschalten.” Nach Angaben von Falk gibt es auch Hersteller, die selbst schon wirksam gegen exzessives Spielen vorgehen, indem etwa Spielfiguren nach einer bestimmten Zeit ermüden und Aktionen sich automatisch verlangsamen oder mit fortschreitender Spielzeit immer weniger Belohnungen erspielt werden können.

Nach einer Erhebung des Verbands spielen in Deutschland 34,1 Millionen Menschen Computer- und Videospiele, 46 Prozent der Bevölkerung. 14,3 Millionen seien unter 30 Jahre alt. Auf unter ein Prozent schätzt Falk den Anteil der Leute, die exzessiv spielen. Die Branche habe seit den 90iger Jahren gelitten, weil Computerspiele etwa für Amokläufe verantwortlich gemacht worden seien, sagt Falk. „In der Folge werden heute nur rund sechs Prozent des Umsatzes von über zwei Milliarden Euro in Deutschland mit deutschen Spielen gemacht.” Deutschland verpasse in einer Zukunftsbranche den Zug. 2017 wuchs der Markt für Computer- und Videospiele sowie Games-Hardware um 15 Prozent auf mehr als 3,3 Milliarden Euro.

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