Die Kanalisation in London ist nach der Cholera-Epidemie entstanden, der Spucknapf verschwand nach der Tuberkulose aus den Herrenfriseursalons – und mit Aids wurde Safer Sex ein verbreitetes Thema. Was hat sich in den fünf Jahren seit den ersten Corona-Fällen verändert?
„Es gibt ein gestiegenes Risikobewusstsein“, sagt der Mainzer Soziologe Professor Dr. Stefan Hirschauer. „Es gibt mehr Desinfektionsspender in der Öffentlichkeit und man nutzt sie auch, und Masken bei Infektionen sind nichts Exotisches mehr.“
„Der Umgang mit unserem eigenen Körper dürfte auch zu den Langzeitfolgen gehören“, sagt der Wissenschaftler. Er sei als „kostbares Objekt scharf ins Bewusstsein gerückt“.
„Ob der Handschlag die Pandemie überlebt hat, können wir noch nicht beantworten.“ Er habe auf jeden Fall an Selbstverständlichkeit verloren. „Es gibt wahrscheinlich auch weniger Umarmungen von Fremden.“
„Grußrituale erhalten die Beziehung. Wenn sie wegfallen, kann die Beziehung Schaden nehmen“, betont der Soziologe. Was aber, wenn wie in der Pandemie Masken und Abstandsregeln etwa Wangenküsse und Umarmungen zur Begrüßung verhindern? „Wie viele Schäden unsere Beziehungen genommen haben, ist politisch nicht auf dem Schirm gewesen.“
„Es gab sehr gute soziologische Gründe dafür, dass sich Menschen während der Pandemie gesundheitspolitisch schlecht benommen haben – ob es um die Begleitung von Sterbenden, um Begräbnisse, um Kindergeburtstage oder Jugendtreffs ging“, sagt Hirschauer.
„Die unglaubliche Verdichtung des privaten Lebens war schlimm. Homeoffice ist noch ein Luxus gewesen, aber die Verdammung von Kleinfamilien in Wohnräume war es nicht“, sagt der Wissenschaftler. „Wenn man einem Fünfjährigen beim Kindergeburtstag sagt, es darf nur deine beste Freundin kommen, dann verursacht das auch langfristige Schäden.“
Solche Gedanken hätten in der Pandemie aber keine Chance gehabt, auf dem Schirm der Politik seien fast ausschließlich Gesundheit und Wirtschaft gewesen. „Insofern haben bestimmte Bevölkerungsteile stärker draufgezahlt als andere.“
Im Hochfahren der Schutzmaßnahmen sei die langanhaltende Unsicherheit über die Gefährlichkeit des Virus bestimmend gewesen, erinnert der Professor. Corona sei behandelt worden wie Ebola – „diesen Grad von Tödlichkeit hatte das Virus aber bei Weitem nicht“.
„Das Aggressionsniveau der öffentlichen Meinungsbildung hat während der Pandemie einen Schlag bekommen – und da sind wir noch nicht raus.“ Grund seien nicht nur die sogenannten sozialen Medien und die Beschäftigung in diesen Bubbles.
„Die Meinungsbildung während der Pandemie ist auch deshalb so aus dem Ruder gelaufen und von der Politik nicht mehr zu kontrollieren gewesen, weil die Personen stärker auf sich selbst zurückgeworfen worden sind“, sagt Hirschauer. „Dadurch hat die Informations- und Meinungsbildung einen höheren Grad an Verschrobenheit erreicht.“
„Da ist was auseinander geklafft: Der Rationalismus der Politik, der sehr stark von der medizinischen und dann ökonomischen Beratung bestimmt wurde, und dem viel weniger rationalen Geschehen in der Gesellschaft.“
Und: „Es hat eine Entmischung stattgefunden. Öffentliche Veranstaltungen sind so ähnlich wie Gesamtschulen oder Fußballstadien Foren, in denen sich Menschen unterschiedlichster Herkunft begegnen“, stellt der Soziologe fest. Das fiel weg.
An solchen Orten, wie auch dem Arbeitsplatz, sei man mit anderen Meinungen, etwa auch mal mit einem AfD-Wähler konfrontiert. „Das ist in der Pandemie runter gefahren worden, es hat einen Fragmentierungseffekt gegeben.“
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