Apotheke vor 20 Jahren

Es war einmal: Kunden im Karteikasten

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Berlin -

Die Uhr dreht sich immer schneller, auch im Apothekenalltag. Wie unterscheidet sich die Arbeit von Apothekern und PTA mit der noch vor 20 Jahren? Während es in den 90er-Jahren noch völlig selbstverständlich war, Jod-Lösung selbst anzumischen, kämpft man sich heute durch einen Wust von Regularien.

Der Freitag ist „Defektur-Tag“. Nach dem Aufschließen morgens um halb neun werden erst einmal die Fahrradständer und Aufsteller nach draußen gebracht. In der Regel ist der erste Mitarbeiter aber spätestens kurz nach acht Uhr da – die Rechner müssen erst noch hochgefahren werden. Und das kann dauern.

Kurz nach neun Uhr betritt Frau Müller die Apotheke, sie möchte ihre Medikamente wie immer. Für den Fall gibt es im Schrank in der Sichtwahl – diese besteht in der Regel aus zwei Regalen – einen Karteikasten. Dort schaut man nun nach, was Frau Müller immer so bekommt. Generika und Rabattverträge sind an diesem Morgen noch in ferner Zukunft.

Ganz wichtig: Kärtchen ziehen nicht vergessen, sonst kommt keine Ware nach! Um zehn Uhr kommt eine Kundin zum Abmessen der Strümpfe, danach beginnt die Frühstückspause. Für jeden eine Viertelstunde, in Ruhe hinten bei den Helferinnen.

Gegen zehn Uhr kommt der Chef. Bis zur Mittagspause verschwindet er im Büro, kümmert sich um Kasse & Co. und wünscht allen um kurz vor eins ein schönes Wochenende.

Schon ab halb zwölf wird es ruhig. Die meisten Ärzte haben jetzt zu. Das nutzt die Apothekerin, um in Ruhe die Etiketten für die Jod-Tinktur zu schreiben, die sie heute Nachmittag anfertigen möchte. 50 Stück, um genau zu sein. Außerdem kommen am Freitag häufig die Verordnungen vom Heim und vom Krankenhaus. Da heißt es, Laktulosesirup herstellen und fürs Krankenhaus die Augentropfen. Bevor die Apothekerin in die Mittagspause geht und die Apotheke abschließt, wird deshalb der Trockenschrank vorgeheizt, um später zügig beginnen zu können.

Den Nachmittag verbringt sie in der Rezeptur und stellt die Defekturen zusammen mit einer PTA her. In der Zeit wird sie von den anderen beiden Helferinnen vorne vertreten. Als alles fertig ist, fertigt sie im Nachhinein noch schnell die Defekturprotokolle an und schreibt die Chargen auf die bereits geschriebenen Etiketten.

Es kommt noch eine Kundin, die gerne einen Hustentee angemischt haben möchte. Gottseidank hat die Apothekerin das große Latinum, es ist an der Uni ohnehin noch Pflicht, da in Rezeptur und Teeherstellung alles nur auf Latein zu finden ist. Halb fünf kommt eine Kundin, die dringend ein Medikament braucht, das die Apotheke nicht vorrätig hat. Die Apothekerin geht nach hinten und bittet die Helferin, telefonisch beim Großhandel nachzufragen.

Um halb sieben ist Feierabend, sie zieht ihren Kittel aus. Schiebt die große Diskette zur Datensicherung ins Laufwerk und verlässt gegen sieben Uhr die Apotheke. Zum Glück hat sie am Mittwochnachmittag frei – und morgen muss sie auch nur bis eins arbeiten. Generell ist sie mit ihren Arbeitszeiten zufrieden. Etwas unflexibel sind sie, aber 38 Stunden pro Woche sind machbar. Was sie besonders an ihrem Beruf mag, ist die Zeit, die sie für die Patienten hat. Das offene Ohr und das Gefühl, helfen zu können.

20 Jahre später – dieselbe Apotheke (was heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist). Inzwischen hat die Apothekerin den Betrieb von ihrem Chef übernommen. Auch öffnet die Apotheke nicht mehr erst 8.30 Uhr, sondern schon anderthalb Stunden früher. Mehrere Kunden hatten sich beschwert.

Um kurz vor 7 Uhr geht es los, Rechner und Kommissionierautomat sowie die Bildschirme, die die Sichtwahl ersetzen, werden hochgefahren. Die ersten Kunden stehen bereits vor der Tür. Ein besonders ungeduldiger Mann macht sich bereits über die Notdienstklingel bemerkbar.

Die Schiebetür geht auf, der erste Kundenstrom kommt herein. Noch ist die Apothekerin bis 8 Uhr alleine, lediglich eine PKA ist im Backoffice ab halb acht da.

Der erste Kunde fragt nach den neuen Angeboten, dabei hat er es eilig. Die erste Stunde verfliegt und gegen 8 Uhr ist die Apotheke voll. Seit die Chefin 20 Prozent auf alles in der Sichtwahl gibt, sind die Kundenzahlen zum Glück wieder gestiegen – der Ertrag leider nicht in dem Maße.

Das bedeutet viel Arbeit für sie und die PTA. Zum Glück hat sie ein gutes Computerprogramm, das sie bei den Rabattverträgen unterstützt, und den Automaten – so kann sie schnell die Rezepte beliefern. Die Schlange wird trotzdem länger.

Eine Kundin mit dem Wunsch nach Kompressionstrümpfen verweist sie auf das Sanitätshaus. Es lohnt sich einfach nicht mehr, diese anzumessen.

Gegen halb zwölf, zwischendurch hat sie immer mal wieder ins Butterbrot gebissen, ist die Apothekerin ziemlich genervt. Die x-te Diskussion zum Thema Rabattvertrag macht mürbe.

Um zwölf geht sie nach hinten ins Büro, um die Kasse zu machen. In der Zeit ist ihre PTA vorne alleine. Wenn es voll wird, soll sie zur Verstärkung klingeln.

Um eins geht die PTA für eine halbe Stunde in Mittagspause. Auch freitags hat die Apotheke längst durchgehend geöffnet. Durch die Nähe zur Stadt und die Angebote kommen auch am Nachtmittag noch Kunden.

Die Rezeptur, die sie am morgen angenommen hat, sitzt ihr noch im Nacken. Deshalb fertigt sie diese noch schnell an, nachdem sie deren Plausibilität überprüft hat. Um halb vier gönnt sie sich endlich das erste Mal eine kurze Verschnaufspause. Ganze fünf Minuten hat sie für ihr Stück Pizza, dann muss sie wieder nach vorne, da es für die Kollegin alleine zu viel ist.

Gerne würde sie für den Nachmittag noch eine Kraft zumindest fürs Backoffice einsetzten, jedoch erlaubt der finanzielle Rahmen dies nicht.

Um 7 Uhr ist endlich Feierabend. Morgen das gleiche Spiel nochmal. Der Samstag ist längst ein normaler Werktag geworden. Eine Alternative gibt es nicht, die Konkurrenz schläft nicht.

Auf dem Weg nach Hause zieht die Apothekerin ein Resümee. Schon lange ist sie unzufrieden. Jeden Tag – auch am Mittwoch – steht sie zwölf Stunden am Stück in der Apotheke und ärgert sich mit Rabattverträgen, Retaxationen und Kostenvoranschlägen herum. In Ruhe zu beraten, ist fast nicht möglich. Auch ihr Privatleben leidet.

Konnte sie sich früher alle sechs Wochen die Notdienste mit ihrem Chef teilen, muss sie heute zweimal im Monat nach ihrer normalen Schicht nachts alleine ran. Und auch die Arbeitszeiten mit im Schnitt 72 Stunden pro Woche zehren an ihren Nerven. In den Urlaub fährt sie nur noch selten. Zu teuer ist die Vertretung.

Im Freundeskreis trifft sie auf wenig Verständnis. Nimm dir doch einen Apotheker zur Hilfe. Finanziell ist nur eine halbe Stelle drin für einen Approbierten – und den sucht sie nun auch schon seit zwei Jahren vergeblich.

Wie gerne würde sie noch einmal eine Woche wie vor 20 Jahren haben. Es gab zwar weniger technische Hilfe, aber dafür mehr Zeit. Mit dem Gedanken, dass sie nur noch zwölf Jahre bis zur Rente hat, fährt sie nach Hause.

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