Politiker im Wahlkampf

Kirschwein-Angie, Kuschel-Peer und Kita-Bahr

, Uhr
Berlin -

Angela Merkel hat als Teenager einmal zu viel Kirschwein getrunken.

Zuhause kocht sie gern Kartoffelsuppe oder Rouladen. Bei Männern steht

die Kanzlerin auf schöne Augen. Nach der Trennung von ihrem ersten Mann

ist sie in eine leerstehende Wohnung eingebrochen. Ihr heutiger Mann

beschwert sich selten übers Essen. Auf dem Kuchen jedoch sind ihm immer

zu wenig Streusel. Na sowas.

Keine Frage: Die letzten Wochen vor der Bundestagswahl haben dem Bürger manch überraschenden Einblick beschert. Über Peer Steinbrück weiß der Wähler jetzt, dass der SPD-Kanzlerkandidat Zuhause gern Scrabble spielt, zu den ersten Lego-Baumeistern der Republik zählte und seine Frau Gertrud in einer Skihütte in der Eifel kennengelernt hat. Im nächsten Leben will er Tischler werden. „Ich habe sogar mal ein Dach ausgebaut.“

Je näher der Wahltermin rückt, umso stärker versuchen Politiker, sich als Mensch wie Du und ich zu präsentieren. Personalisierung lautet das Schlagwort, zu Deutsch: Man lässt es menscheln. Lernt der Wähler die Kandidaten dadurch besser kennen? Wohl kaum. Erhöht der inszenierte Einblick ins Private die Sympathiewerte? Gewiss, klingen da im schrillen Wahlkampfendspurt doch noch mal ganz andere Saiten an.

Zum Beispiel bei Merkels Gatten Joachim Sauer: Sein Streuseldefizit lässt den renommierten Chemiker, der sich konsequent der Öffentlichkeit entzieht, doch gleich viel Menschlicher wirken. Das Prinzip ist einfach, Gertrud Steinbrück bringt es im „Stern“ auf den Punkt: Sie sieht sich als „Lenor-Frau“, zuständig fürs Weichspülen des oft als kantig beschriebenen Gatten. „Er hat seine kuscheligen Seiten“, versichert sie im Stern.

Nun ist bekannt, dass weder Merkel noch Steinbrück zur Gefühlsduselei neigen. Emotionale Ausbrüche, wie sie sich Kanzler Gerhard Schröder im Fernsehduell 2005 mit seiner Liebeserklärung an seine Frau leistete, sind beiden fremd. Was sie von sich preisgeben, ist in der Regel wohlkalkuliert. Eine Homestory am Küchentisch von Merkels Datsche bei Templin? Undenkbar.

Mainhardt Graf von Nayhauß findet das kleinkariert. Der langjährige Bild-Kolumnist hat zu Bonner Zeiten zahllose Homestorys gemacht, mit Norbert Blüm im Garten gesessen, mit Helmut Kohl den Weinkeller in Oggersheim besichtigt. Heute ist Nayhauß 87 Jahre alt – und ärgert sich über „dieses verklemmte Abschotten“ der heutigen Spitzenpolitiker.

„Um einen Politiker beschreiben zu können, gehört dazu doch auch sein Zuhause – was hat er für Bücher, was hat er für Bilder, wie ist er eingerichtet, wie geht er mit Frau und Kindern um?“, sagt Nayhauß. „Doch die Tendenz, dass sich Politiker abkapseln, wird immer stärker.“ Warum? „Das Arbeiten und Leben in Bonn war einfach intimer, man hockte mehr zusammen. Hinzu kommt heute die Hektik des Internets, es dominiert der Hysterie-Journalismus“, sagt er. „Das Misstrauen ist gewachsen.“

Hinzu kommt, dass Politiker heute in den sozialen Netzwerken selbst das Bild von sich formen können, das ihnen genehm ist. Aber auch die gesellschaftliche Realität, das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker hat sich geändert. Die Inszenierung einer heilen Welt wie einst auf Kohls Urlaubsfotos vom Wolfgangsee passt nicht mehr in die Zeit – zumal man heute weiß, wie vordergründig dieses Bild war.

Stattdessen zeigen Politiker heute eher, wie sehr private Erfahrungen das Leben prägen. SPD-Chef Sigmar Gabriel berichtete vor einiger Zeit berührend von seiner schweren Kindheit als Sohn eines Alt-Nazis, SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles spricht immer wieder von ihrem aufreibenden Spagat zwischen Familie und Job. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) klagte nach der Geburt seiner Tochter, wie schwierig das mit einem Kita-Platz ist.

Wenn dann aber doch einmal die Kontrolle verloren geht, wenn sich doch einmal Gefühle Bahn brechen, die einen Einblick in die Seele gewähren, ist das Erstaunen groß. Als Gertrud Steinbrück vor einigen Wochen bei einer SPD-Veranstaltung über die Zumutungen des Wahlkampf sprach und ihrem Mann die Tränen in die Augen stiegen, waren viele Menschen angerührt. Ein authentischer Moment im Wahlkampf. Ein Moment mit Seltenheitswert.

Alles zu den privaten Inszenierungen der Politiker und Daniel Bahrs Politik der lila Socken finden Sie im APOTHEKE ADHOC Dossier „Die Unwählbaren“. Dazu gibt es zusätzlich ein limitiertes DinA2-Plakat „Die Unwählbaren“ – so lange der Vorrat reicht.

Jetzt bestellen »

Newsletter
Das Wichtigste des Tages direkt in Ihr Postfach. Kostenlos!

Hinweis zum Newsletter & Datenschutz

Mehr zum Thema
Nächster Besuch bei Merck
Habeck besucht Pharma-Standorte
194 Mitglieder wollen Vertragswerk retten
WHO-Pandemieabkommen: Neuer Entwurf, neue Verhandlungen
Mehr aus Ressort
Protest gegenüber vom Parteibüro
Verbandschef plakatiert gegen SPD-Minister
Änderung des Krankenhausgesetzes
Thüringen: Weg frei für Klinikreform
Weniger Bürokratie, mehr Entscheidungsfreiheit
Overwiening lobt Engpass-Initiative

APOTHEKE ADHOC Debatte