Praxis ohne Grenzen

„Wir brauchen grandios viel Geld“

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Berlin -

Die Wirtschaft boomt – und dennoch gibt es Menschen, die sich keine Krankenversicherung (mehr) leisten können. Der Bad Segeberger Arzt Dr. Uwe Denker hatte vor einigen Jahren die Idee der „Praxis ohne Grenzen“. Eigentlich sollte es nur eine werden, aber die Idee boomt. Bundesweit gibt es derzeit elf Vereins-Praxen. Der erste große Spender waren der Apothekerverein und die Apothekerkammer Schleswig-Holstein.

1000 Euro sicherten im Jahr 2010 den Start für das engagierte Projekt. Dabei wollte der Allgemeinarzt eigentlich in die wohlverdiente Rente gehen. Davon sind nur zwei Stunden am Tag Siesta geblieben. Zwischen 13 und 15 Uhr ist er nicht erreichbar. Das ist Gesetz im Hause Denker. Handy aus, Augen zu. Darüber hinaus kann man ihn und sein Team immer erreichen. Auch nachts. Denn Not und Verzweiflung kennen keine Praxiszeiten.

Ein Müllberg in Bad Segeberg gab den Anstoß, den Verein Praxis ohne Grenzen Segeberg zu gründen. „Ich habe erfahren, dass riesige Mengen an Medikamenten, von denen große Teile noch zu verwenden wären, regelmäßig verbrannt werden. Wir wollten Originalverpackungen verwenden, die zum Beispiel aus Haushaltsauflösungen stammten und noch nicht abgelaufen waren.“

Das ist gesetzlich verboten. „Eines Tages standen wir auf dem Schlauch, wollten helfen, aber hatten keine Medikamente mehr.“ An der Gesetzeslage hat sich seitdem nichts geändert. Aber am Bedarf der Menschen an kostenloser ärztlicher Behandlung. Über 500 Patienten haben Denker und sein Team allein in Bad Segeberg bisher behandelt. Bundesweit sollen rund 1,5 Millionen Menschen ohne ausreichende Krankenversicherung leben, eine statistische Erhebung findet nur alle vier Jahre statt.

Mit seiner herzlichen Art sorgt Denker dafür, dass sich niemand schämen muss, wenn er in seine Praxis kommt. Niemand muss sich bei ihm erklären oder gar entschuldigen. Er nimmt sich den Luxus der Zeit. „Manche Patienten waren 20 Jahre nicht beim Arzt.“ Er führt lange Gespräche, auch wenn dafür andere Patienten warten müssen. Sie bekommen schließlich dieselbe Zuwendung. In seiner Zeit als Kassenarzt war das nicht immer möglich. Termine und der Blick aufs Budget regierten sein Arbeitsleben.

Der Arzt führt eine traurig stimmende Liste. Auf der sind Alter, Beruf und Krankheiten einiger seiner Patienten anonymisiert aufgeführt. Und deren Ausgang, der nicht immer glücklich ist. Einige starben, weil sie zu spät zum Arzt gingen. „Mode-Kaufmann“, steht zum Beispiel zu lesen, und „Zahnlücken, arterielle Verschlusskrankheit, Nierenkrebs. Ist verstorben.“ Eines von vielen Schicksalen. Auf der Liste stehen Taxiunternehmer, Vermögensberater, Maurer- und Malermeister, ein Friseur, ein Schausteller, ein Rechtsanwalt, eine Binnenschifferswitwe, ein Gewürzhändler. Der kam rechtzeitig in die Praxis ohne Grenzen, bekam nach Herzversagen eine Schrittmacherimplantation.

Manchmal, wenn ein Patient gesundet, neuen Lebensmut fasst und wieder einen Job findet, gibt es ein Dankeschön. „Einmal bekamen wir 100 Euro von einem ehemaligen Patienten, das hat uns sehr gefreut“, erzählt er. Weil es Geld war, das nicht mal eben aus der Portokasse genommen, sondern fleißig zusammengespart worden war. Mit den Spenden läuft es passabel. „Wir bekommen Geld von Privatmenschen, Stiftungen, Kirchenkollekten oder Aktionen von Lions Clubs. Die Spenden sind grandios, aber wir brauchen auch grandios viel Geld.“

Dass seine Patienten hier sitzen, ist nicht immer ihre Schuld. Manche wurden arbeitslos, dann krank, sie haben sich von ihren Partnern getrennt, vielleicht einen durch Tod verloren und den Lebensmut gleich mit. Von der Mittelschicht in die Verzweiflung dauert es oft nur ein paar Monate. Viele waren Unternehmer, Mittelstand, gingen pleite oder die Geschäfte liefen eines Tages nicht mehr so gut.

Dann spart man erst beim Essen, fährt nicht mehr in Urlaub und stellt eines Tages fest, dass die private Krankenversicherung, deren Tarife vielleicht auch noch gestiegen sind, nicht mehr finanzierbar ist. Wird schon irgendwie weitergehen, sagt man sich und steckt den Kopf in den Sand. Jeden Tag ein bisschen tiefer. Wenn sich eine richtig schwere Krankheit einstellt, traut man sich dann erst recht nicht mehr zum Arzt: Wer soll das bezahlen?

Uwe Denker erlebt Geschichten, die nachdenklich stimmen. Besonders ungerecht findet er, wenn schon Kinder in die Maschinerie der Armut geraten. Er fordert deshalb eine elternnunabhängige, beitragsfreie Versicherung für Kinder. Neben der Grundversicherung, die es für alle Erwachsenen geben soll. Aus einer guten Idee aus dem hohen Norden ist mit den Jahren ein kleines, bundesweites Netzwerk geworden.

„Ich bin der Gründer und Koordinator“, sagt Denker. „Ohne mein Team wäre das alles gar nicht möglich.“ Arztkollegen und –helferinnen stellen Know-How und Freizeit zur Verfügung, wenn es darum geht, jenen zu helfen, die weniger Glück im Leben hatten. Ein bisschen Stolz klingt zu Recht mit, wenn Denker erzählt, dass Fernsehzuschauer ihn zum „Held des Nordens“ gewählt haben. Gelegentlich umarmen ihn Fremde auf der Straße. „Sind Sie nicht der mit den Arztpraxen?“, fragen sie. Ja, so könnte man es sagen. Dabei war das Wachstum der Idee in dieser Form gar nicht geplant. Die Welt wäre schöner, wenn es die Praxis ohne Grenzen nicht geben müsste.

Manchmal hängt das Herz des Arztes an seinen Patienten. Wie im Fall einer mongolischen Künstlerin, die an Leberkrebs erkrankt war. Eine OP in Deutschland hätte rund 250.000 Euro gekostet. „Wir haben sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, aber fanden niemanden in Deutschland, der die Kosten übernommen hätte. Durch Verbindungen bin ich auf eine Kollegin in Indien gestoßen, die OP sollte dort nur 60.000 Euro kosten.“ Die Patientin starb kurz vor der geplanten OP. „Auch ihr Sohn ist krank, er leidet an einer Stoffwechselstörung. Ich habe ihr versprochen, dass ich mich um ihn kümmern werde.“

Die Ärzte von der Praxis ohne Grenzen entwickelten ein Behandlungsschema, das in der Mongolei funktioniert, damit er zu Hause therapiert werden kann. „Die ambulanten Leistungen bekommen wir oft umsonst, befreundete Ärzte schicken nur ganz selten eine Rechnung. Die Kollegen sind grandios. Wir sind eine Riesentruppe, vom Physiotherapeuten über Apotheker bis zu Chirurgen. Meine Mittwoch-Sprechstunde wird zum Beispiel von fünf Ärzten und zwei Arzthelferinnen im Wechsel betreut, alle arbeiten ehrenamtlich.“ Niemand hofft, dass die Praxis eines Tages geschlossen wird. Obwohl es schon irgendwie schön wäre.

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