Pharmazeuten organisieren Ukraine-Hilfe

Ukraine: Apotheker ohne Grenzen im Krisenmodus

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Berlin -

Apotheker ohne Grenzen (AoG) wurde vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine genauso überrascht wie die meisten Menschen. Doch in Windeseile hat die humanitäre Organisation die erste Hilfslieferung auf die Beine gestellt, am Sonntag passierte sie die Grenze. Schon bald dürften AoG-Hilfskräfte nach Polen ausreisen – Hilfe für die Ukraine lässt sich schnell vor Ort aufstellen, denn anders als bei den bisherigen AoG-Einsätzen spielt sich die Katastrophe direkt vor unserer Haustür ab.

Es wurde gewarnt, prognostiziert und von den Geheimdiensten vorhergesagt – aber in Politik und Gesellschaft wollten es die allermeisten nicht wahrhaben, dass eine russische Invasion der Ukraine tatsächlich unmittelbar bevorsteht. Apotheker ohne Grenzen war da keine Ausnahme. „Ich muss ehrlich gestehen, dass wir zuvor noch nicht über Maßnahmen nachgedacht hatten“, sagt Apotheker Andreas Portugal. „Wir hatten alle gehofft, dass es nicht so weit kommt.“

Portugal ist nicht nur ehemaliger Inhaber zweier Apotheken in Greifswald und arbeitet in einem Impfzentrum, sondern seit der Gründung von AoG ehrenamtlich dort engagiert. Seit vergangener Woche ist er Koordinator der Ukraine-Hilfe von AoG. „Von dem Punkt an, an dem die Russen einmarschiert sind, war klar, dass es Flüchtlinge und Verletzte geben wird und der medizinische Bedarf steigt.“

In seiner neuen Funktion hat Portugal deshalb sofort gehandelt: Bereits am Sonntag hat ein Hilfskonvoi mit Verbands- und Hilfsmitteln für ukrainische Krankenhäuser, der zu großen Teilen von AoG finanziert wurde, die polnisch-ukrainische Grenze überschritten. Weiter als bis dahin geht es auch gar nicht. „Das Problem ist, dass wir laut unserer Satzung keine Leute in Kriegsgebiete schicken können. Das kommt für uns also nicht infrage“, so Portugal. Deshalb wird die Ukraine-Hilfe vollständig über Polen organisiert. Gute Kontakte helfen dabei – und ein wenig Glück.

Denn mit Katarzyna Ostendorf war bereits vergangene Woche zufällig ein langjähriges AoG-Mitglied in Warschau, das lange Vorstandsmitglied war und mehrere Einsätze für den Verein durchgeführt hat. Sie konnte aus dem Stegreif die notwendigen Kontakte herstellen: Die Lieferung vom Sonntag wurde in Zusammenarbeit mit der polnischen NGO Polish Medical Mission (PMM) organisiert. „Wir sind auf sie zugegangen, weil sie schon länger in der Ukraine aktiv sind, sie unterstützen bereits seit 2014 ukrainische Krankenhäuser“, erklärt Portugal. „Es ist ein enormer Vorteil, dass sie die Verhältnisse und Menschen vor Ort bereits kennen.“

Nach einer spontanen Diskussion gab der Vorstand deshalb noch vergangene Woche 10.000 Euro für die Soforthilfe frei – je zur Hälfte für PMM und das Polish Center for International Aid (PCPM). „Die Zusammenarbeit mit PCPM ist noch nicht fest, aber wir haben sie schon fest eingeplant“, sagt Portugal. Die bereits vergebenen 10.000 Euro sollen nur ein Anfang sein, „damit man sieht, dass wir tatkräftig helfen und nicht nur darüber reden.“

Die Beteiligung von AoG sei dabei nicht nur in finanzieller Hinsicht eine wichtige Hilfe, PMM beispielsweise habe noch nicht viel Erfahrung mit Arzneimitteln. Ostendorfs Know-how und Unterstützung vor Ort sei deshalb von großem Nutzen. Wie genau es darüber hinaus weitergehen wird, will AoG am Montagabend auf einer Vorstandssitzung besprechen.

Die Optionen liegen bereits auf dem Tisch: Zuallererst müsse mehr Geld freigegeben werden, dann brauche es Arzneimittel und Personal sowie zeitgleich einen Ausbau der Kontakte. So werde es wahrscheinlich auf eine Zusammenarbeit mit Organisationen in Rumänien und Moldawien hinauslaufen – Länder, in denen AoG bereits geholfen hat und über entsprechende Kontakte verfügt. Auch über das Personal muss aber entschieden werden. „Wir gehen davon aus, dass wir uns in Polen personell stärker beteiligen werden“, sagt Portugal. Voraussichtlich werde der Beschluss gefasst werden, von den geschulten Einsatzkräften Verfügbarkeitszeiträume abzufragen. AoG verfügt über einen Pool von rund 200 für Einsätze geschulten Pharmazeut:innen.

Portugal geht davon aus, dass die Beteiligung groß sein wird – und zwar nicht zuletzt, weil der aktuelle Krieg direkt in unserer Nachbarschaft tobt. Die Hilfskräfte müssen keine lange Anreise samt Material per Flugzeug in eine andere Zeitzone organisieren, sondern können sich einfach ins Auto setzen und innerhalb eines Tages bis an die Grenze des Kriegsgebiets fahren. Das ist die Lage in Europa im Jahr 2022. „Wir müssen erst einmal selbst damit klarkommen, dass das etwas anderes ist als unsere sonstigen Einsätze“, sagt Portugal. „Ein Erdbeben oder eine Flut ist eine Naturkatastrophe, gegen die man nichts hätte tun können. Dass es jetzt menschengemacht ist, macht die Situation für alle extrem.“

Bis dahin besteht seine Arbeit hauptsächlich daraus, Anfragen zu organisieren. „Ich kriege stündlich Mails und Anrufe von Leuten, die Kontakt zu Einrichtungen in der Ukraine haben und nun Hilfsangebote machen wollen oder Hilfe wollen“, erzählt Portugal. „Es ist sehr schwer, das zu lenken.“ Dabei sind auch Hilfsangebote oftmals längst nicht so gut, wie sie gemeint sind.

So würden viele Menschen versuchen, Arzneimittel zu spenden. Doch das sei der falsche Weg, betont Portugal. Denn es mache die Arbeit unverhältnismäßig kompliziert, statt schnelle Hilfe zu ermöglichen. Denn dann würden meist nur private Kleinspenden abgegeben – nicht selten sogar abgelaufene Medikamente – die erst aufwendig sortiert und verpackt werden müssen und dann am eigentlichen Bedarf vorbeigehen. Was der eine übrighat, ist nur selten das, was der andere braucht. „Was nützt ein einzelner Blister Misoprolo jemandem, der langfristig versorgt werden muss?“, so Portugal. AoG versuche stattdessen, über Organisationen und Unternehmen kontrolliert Arzneimittel, die gebraucht werden, in den richtigen Mengen zu besorgen. „Für 10 Euro kann ich bei Medeor 1000 Tabletten Paracetamol kaufen. Mit 10 Euro ist also viel mehr geholfen als mit ein paar Packungen übriggebliebener Medikamente aus dem eigenen Haushalt.“

Etwas anders sähe es bei Apotheker:innen aus, die selbstständig eigene Arzneimittel spenden – hier könne man auf die ordnungsgemäße Lagerung und Qualität vertrauen. „Es ist immer besser, sich an Profis zu wenden“, so Portugal. Diese Arbeit wird in den kommenden Tagen viel von seiner Zeit verschlingen: AoG muss den Bedarf an Arznei- und Hilfsmitteln bestimmen und versuchen, sie über Unternehmen, NGOs und Apotheken vor Ort möglichst günstig und in möglichst großer Menge zu organisieren und sie dann so schnell es geht dorthin zu kriegen, wo sie gebraucht werden. „Wir wollen keine Bürokratie aufbauen, aber wir müssen schauen, dass das in geregelten Bahnen abläuft“, so Portugal. „Wir brauchen konkrete Listen mit Bedarf und vorhandener Ware, wir werden an Firmen herantreten, die Verbandsmittel herstellen und fragen, ob wir die günstiger kriegen oder sie spenden, und wir müssen schauen, welche Angebote seriös sind.“ Wovon es dabei nie zu viel geben kann, ist Geld. Apotheker ohne Grenzen bittet deshalb um Spenden und hat einen Aufruf gestartet.

Spenden können mit dem Betreff „Ukraine Hilfe“ an folgendes Konto überwiesen werden: Deutsche Apotheker- und Ärztebank
IBAN: DE 88 3006 0601 0005 0775 91
BIC: DAAEDEDDXXX

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