Impfstoff-Tests

Novartis: Obdachlose als Versuchskaninchen

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Berlin -

Vor zehn Jahren wurde ein neuer Impfstoff gegen das Vogelgrippe-Virus H5N1 offenbar auch an polnischen Obdachlosen getestet – ohne deren Wissen. Einer der Betroffenen hat Klage gegen den Hersteller Novartis eingereicht. Über seinen Fall berichtete das Europamagazin der ARD.

Ab dem Jahr 2005 kam es verstärkt zu Ausbrüchen der Vogelgrippe in Europa. Man befürchtete, das H5N1-Virus könnte sich immer weiter verbreiten und eine Pandemie auslösen. Die Pharmaindustrie stand unter Druck, so schnell wie möglich einen Impfstoff herzustellen. So auch Novartis. Der Konzern ließ ein neu entwickeltes Präparat in Polen testen. Für eine der letzten klinischen Studien wurde eine private Arztpraxis in Grudziadz engagiert.

Auch Grzegorz Schoenwald ließ sich hier nichtsahnend behandeln. Zu dieser Zeit lebte er noch im Obdachlosenheim der 100.000-Einwohner-Stadt. „Keiner sagte uns, dass das ein Test eines neuen Mittels ist“, schilderte Schoenwald dem Team des Europamagazins. „Die ganze Zeit sagten sie, das ist eine ganz normale Impfung gegen die normale Grippe sei.“

So wie er erhielten auch weitere Bewohner Impfungen gegen die vermeintliche saisonale Grippe. „Mit Freunden bin ich manchmal morgens und abends dort hingegangen“, berichtet etwa Miroslaw Herzcke. „Manche ließen sich sogar dreimal am Tag spritzen.“

Jede Injektion besserte die klamme Kasse der Bewohner ein wenig auf. Damit hätte man sie angelockt, meint der damalige Heimleiter Mieczyslaw Waclawski. „Sie wollten mit dem Geld etwas Wein oder Zigaretten kaufen, manche auch einfach nur Brot. Es waren arme, sehr arme Menschen am Rand der sozialen Ausgrenzung.“

Der Zeitmangel wirkte sich auf die Qualität der Studie aus. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) lehnte die Daten ab. Die Ärzte und Krankenschwestern in der Praxis von Grudziadz wurden unter anderem wegen Betrugs verurteilt. Sie hatten ihre Probanden nicht nur getäuscht, sondern zum Teil auch deren Unterschriften gefälscht.

Tests an hilfsbedürftigen Menschen seien eine gängige Praxis, beobachten Experten. Denn sie ließen sich als Probanden leicht anwerben. „Wir haben solche Fälle in vielen anderen Ländern vorgefunden, wo Obdachlose und andere arme Menschen, die sonst nicht an Medikamente kommen, an klinischen Studien teilgenommen haben, ohne zu wissen, was sie eigentlich machen und ohne dass ihnen das Risiko bewusst ist“, sagt Patrick Durisch von der Schweizer Organisation Public Eye.

Public Eye hat herausgearbeitet, dass Pharmahersteller vorwiegend in Entwicklungs- und Schwellenländern, aber auch in Osteuropa ihre klinischen Tests durchführen lassen. „Die Kontrollen sind nicht so streng oder sie existieren gar nicht. Deshalb kann man seine klinischen Studien viel schneller durchführen, weil niemand in die Studien eingreift.“ So könne schneller die Zulassung beantragt und das Medikament auf den Markt gebracht werden.

Schoenwald ist froh, dass er keine bleibenden Schäden davon getragen hat. Er reichte Klage gegen Novartis ein. „Ich war doch ein Versuchskaninchen, die sollten zur Verantwortung gezogen werden. Sie haben dieses Tests an uns durchgeführt.“ Der Konzern sieht sich jedoch nicht in der Verantwortung: „Novartis hat sich verpflichtet, jederzeit höchste Standards einzuhalten und verlangt das Gleiche von allen externen Partnern.“

Das lässt Schoenwalds Anwalt Philip Stolkin nicht gelten: „Nun will Novartis, die das Ganze veranlasst haben, aus der Haftung entlassen werden und will es auf die Dienstleister schieben. Das ist nicht Gegenstand der Haftung. Haften tut derjenige, der ein prinzipielles Interesse an den Versuchen hat. Da gibt’s nur einen, das war Novartis. Darum sind sie haftbar.“

ver

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