Keine Entspannung in Sicht

Engpässe: „Wir haben schon eine Rosa-Phobie entwickelt“

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Berlin -

Bei den Lieferengpässen liegen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander, das zeigen die aktuellen Zahlen aus der aposcope-Befragung. 94 Prozent in den Apotheken geben an, dass die Lieferengpässe aktuell die größte Herausforderung sind. Die Präsidentin der Apothekerkammer Berlin, Dr. Kerstin Kemmritz, sprach beim Live-Talk auf der APOTHEKENTOUR in Berlin schon von einer „Rosa-Phobie“.

Von einer Entspannung, wie sie der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte, merkt Kemmritz nichts: „Es kommt mir eher noch schlimmer vor“, berichtete sie. Ihr Team verbringe gefühlt 80 bis 90 Prozent der Zeit mit dem Lieferengpassmanagement, „tatsächlich ist es vielleicht nicht ganz so viel, aber es fühlt sich an, als wäre jede zweite Verordnung betroffen.“

„Nicht mal Dritte-Welt-Niveau“

Besonders bei den Antibiotika habe sich die Lage in den letzten Wochen zugespitzt: „Wir haben mit Scharlach ordentlich zu tun, Amoxicillin ist für die Zahnmedizin überhaupt nicht mehr verfügbar. Wir basteln schon Packungen zusammen, das ist nicht mal mehr Dritte-Welt-Niveau!“ Dass Reste zusammengeklaubt würden, habe nicht mehr viel mit Arzneimittelsicherheit zu tun, so die Apothekerin, „das ist peinlich und traurig“. Man habe schon eine richtige „Rosa-Phobie“ entwickelt, berichtete sie: „Man sieht das rosa Rezept und hofft, dass keine Standards wie Amoxicillin darauf stehen.“

Man suche auch als Apothekerkammer das Gespräch mit den Ärztekammern, diese seien allerdings nur begrenzt fruchtbar: „Wir stoßen zwar nicht auf eine ,Fundamentalopposition‘, sondern auf Verständnis, erreichen dadurch aber natürlich auch nicht jeden.“ Sie erlebe in ihrer Apotheke ganz unterschiedliche Verhaltensweisen von Ärzt:innen: von völligem Unverständnis hin zu Verordnungen, die schon mit einem Vermerk zu möglichem Austausch oder Rezepturherstellung in der Apotheke ankommen.

Lager sind leer

Auch Infectopharm kämpft aktuell mit Engpässen, „die Telefone laufen heiß, weil Apotheken anrufen und sich nach Ersatz und Lieferfähigkeit erkundigen“, so Geschäftsführer Dr. Markus Rudolph. „Wir leben momentan allerdings auch nur von der Hand in den Mund“, berichtete er. Normalerweise habe man von den wichtigen Arzneimitteln wie Antibiotika und auch Klinikarzneimittel immer einen Jahresbedarf auf Lager. Der Ausfall mehrerer anderer Lieferanten könne dadurch aber nicht aufgefangen werden.

Die Lager sind leer, der Nachschub fehlt ­– auch im Publikum hoben alle Zuhörer:innen des Live-Talks die Hand bei der Frage, wer von den Lieferengpässen genervt ist.

Dr. Markus Rudolph erwartet mehr von der Politik als Flickschusterei.Foto: APOTHEKE ADHOC

Aus Herstellersicht müsse aber einiges passieren, um die Lieferengpässe langfristig in den Griff zu bekommen. „Wir produzieren sowieso schon nur in Europa, Antibiotika zum Beispiel nur in Österreich, wir sind gar nicht in Indien oder China“, so Rudolph zur Standortproblematik. Es werde allerdings in Zukunft niemand mehr nach Europa gehen, „wenn wir das System nicht ändern, denn das geben die Preise nicht her“. Jetzt seien zwar noch neue Probleme hinzugekommen wie Corona und die Energiekrise, das grundsätzliche Problem sei aber kein neues.

Fehlendes Bewusstsein

„Der Anteil von Kinderarzneimitteln an den Absätzen der Hersteller und Kosten für die Krankenkassen ist verschwindend gering“, so Rudolph, „die sind jetzt nur relevant geworden, weil eben nichts mehr verfügbar war“. Im Dezember habe man die Preise für antibiotische Säfte erstmals über Festbeträge angehoben, um ein Signal zu senden: Bei wichtigen Anitibiotika wie Amoxicillin seien die Festbeträge seit 2010 sogar mehrmals abgesenkt statt erhöht worden.

Auch Kemmritz bemängelt das fehlende Bewusstsein: „Das Thema ist erst wieder in die Öffentlichkeit gelangt, weil viele kranke Kinder und ihre Familien vor Weihnachten nichts mehr bekommen haben.“ Die Situation sei zwar dramatisch, aber definitiv kein Einzelfall, es seien mehr Maßnahmen erforderlich.

Es brauche einen ganz großen Wurf.Foto: APOTHEKE ADHOC

Die Verlängerung der gelockerten Abgaberegelungen bis Ende Juli ist daher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, spätestens ab August sieht es in den Apotheken eher noch schlimmer aus. Denn die geplanten Ausnahmeregeln hält Kemmritz für „Flickschusterei“: „Da sind ein paar Elemente dabei, die der Anfang sein könnten, das wird uns aber ab August in keiner Weise weiterhelfen.“ Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) habe Zeit gewonnen um nachzubessern, es gehe dabei aber nicht darum, die Apotheken weiter zu entlasten, sondern überhaupt erst einmal die Arzneimittelversorgung zu ermöglichen.

Leere Kassen trotz Kundenstrom

Momentan habe sie noch Glück, dass Kund:innen gut informiert sind und in der Regel freundlich auf ihr Team zukommen. Ab August werde es dann allerdings noch schwieriger, die Probleme zu erklären. „Das macht auch keinen Spaß mehr“, so die Apothekerin, sie sieht sich auch mit Unwirtschaftlichkeit konfrontiert: Auf dem Papier habe man dann vielleicht doppelt so viele Kund:innen wie sonst, aber am Ende des Tages bleibe die Kasse doch leer, weil kaum etwas abgegeben werden konnte.

Rudolph geht das Generika-Gesetz ebenfalls nicht weit genug: Lediglich die Kinderarzneimittel seien von den Festbeträgen ausgenommen worden, die 50 Prozent Aufschlag decken demnach den Inflationsausgleich, seit 2010 seien die Kosten aber deutlich mehr gestiegen. Preiserhöhungen seien der richtige Weg, lösten aber nicht das Gesamtproblem: „Wir gehen nicht an das System ran. Dabei heißt es doch, wenn du ein totes Pferd reitest, steige ab!“

„Apotheken ausgequetscht“

„Die Rabattverträge funktionieren nicht mehr“, stimmte Kemmritz zu, „diese Zitrone ist genauso ausgequetscht wie die Zitrone in den Apotheken. Auch für uns gab es keine Kostenanpassungen, wir sitzen alle in einem Boot. Es wird nicht gehen, wenn wir nicht mehr Geld in das System geben. Wie viel sind uns Gesundheit und eine vernünftige Versorgung wert? Wir müssen lauter werden! Wir brauchen eine Stimme und wir müssen uns mit allen Beteiligten zusammensetzen und ein neues System entwickeln“, so die Kammerpräsidentin.

Sie wünsche sich von Lauterbach mehr Ernsthaftigkeit und einen runden Tisch mit Apotheker:innen: „Der Gesetzentwurf reicht vorne und hinten nicht, entweder fehlt es also an Verständnis oder Ernsthaftigkeit.“ Die Abda-Forderung nach einer Engpass-Prämie in Höhe von 21 Euro statt 50 Cent unterstützt sie, „denn das ist unsere Arbeit wert“.

Laut Rudolph ist schon genug Geld im System, „wir müssen nicht unbedingt mehr investieren, eher die Gelder umverteilen“, so der Geschäftsführer. Das System müsse attraktiver gemacht werden, „wir müssen definieren, wie viel wir wofür ausgeben wollen“, sagte er. Aus Herstellersicht sollten die Festbeträge daher auf den Prüfstand gestellt, ein Inflationsausgleich einbezogen und vor allem das Ausschreibungsmodell der Krankenkassen entfernt werden: „Ich glaube, dass das System dafür genug Geld hat, wir müssen es nur anders verteilen, damit es sinnhaft ankommt, wo es gebraucht wird“, so der Geschäftsführer.

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