ADHS-Patienten haben keinen Anspruch auf Therapie mit medizinischem Cannabis – auch nach den seit einem Jahr geltenden neuen Regelungen nicht. Das hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) entschieden.
Zwar sei ADHS unstreitig eine schwerwiegende Erkrankung. Es stünden zur Behandlung aber allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung. Deshalb sei Voraussetzung für den Genehmigungsanspruch, dass eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes vorliege, die die hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien erfülle. Solange diese fehle, könne offenbleiben, ob eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome verspreche.
Konkret müsse der Arzt die bestehenden Erkrankungen und bisher angewandten Behandlungskonzepte sowie das mit der Cannabis-Behandlung angestrebte Behandlungsziel benennen. Auch müsse er vollständig darlegen, was für und gegen die Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien und die Anwendung von Cannabis spreche – einschließlich möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis.
Diese Voraussetzungen einer begründeten Einschätzung seien auch nicht durch das zum 1. April 2024 in Kraft getretene Cannabisgesetz (CanG) überholt. Zwar sei Cannabis kein Betäubungsmittel (BtM) mehr. „Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass die strengen Anforderungen an die begründete Einschätzung des Vertragsarztes abgesenkt oder modifiziert werden müssten.“
Zwar liege der Einführung des CanG eine neue Risikobewertung durch den Gesetzgeber zugrunde; die Risikobewertung im Hinblick auf die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter mit Cannabis sei aber unverändert geblieben. „Der Gesetzgeber hält ausdrücklich fest, dass die Regelungen im SGB V, die den Versicherten unter den dort genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln geben, unverändert blieben.“
So stütze sich auch das Bundessozialgericht (BSG) weiter auf die fehlende Evidenz zur Wirksamkeit der Therapie mit Cannabis und die Gründe des Patientenschutzes.
Im konkreten Fall habe der Arzt lediglich einen Fragebogen ausgefüllt und um Atteste und Aussagen von Sachverständigen ergänzt. „Detaillierte Angaben über welche konkreten Zeiträume in welcher Dosierung jedes der Medikamente eingenommen wurde und welches konkrete Ausmaß die jeweils vom Kläger angegebenen Nebenwirkungen hatten und wie diese behandelt wurden, hat er dagegen nicht gemacht. Auch mit den nichtmedikamentösen Therapieoptionen befasst er sich nicht.“
Insbesondere aber fehlt laut LSG eine „Abwägung der Nebenwirkungen der Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis, wobei in die Abwägung nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen, einfließen dürfen“. Mit den möglichen Gefahren der Cannabisblütentherapie setzten sich die Stellungnahmen überhaupt nicht auseinander, obwohl sich dies angesichts des bekannten Substanz- und Alkoholmissbrauchs des Patienten in der Vergangenheit besonders aufgedrängt hätte.
Laut S3-Leitlinie solle Cannabis für die Behandlung der ADHS nicht eingesetzt werden; auch die Leitungsgruppe des zentralen ADHS-Netzes sah nach einem groß angelegten, systematischen Review des Jahres 2019 „eindeutig“ mehr Risiken als Nutzen von Cannabinoiden in der ADHS-Therapie. Ob dies noch dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspreche und ob bereits – wie vom BSG in anderen Zusammenhängen für ausreichend erklärt – geringe Erfolgsaussichten bestünden, könne offenbleiben, weil ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis unabhängig von der Wirksamkeit ohnehin nicht bestehe.
Im konkreten Fall ging es um einen heute 44-jährigen Patienten mit ADHS im Erwachsenenalter, bipolarer Störung, Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung und Tic-Störung und in der Vorgeschichte Alkohol- und Amphetaminabusus. Nach seinen Angaben ist bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt. Er hatte Ende 2020 bei seiner Kasse die Genehmigung einer Therapie mit Cannabisblüten der Sorte Bedrocan in der Dosis 2 g pro Tag beantragt.
Unter Medikinet und Strattera habe sich keine Verbesserung der Symptomatik gezeigt; stattdessen seien erhebliche Nebenwirkungen verzeichnet worden, darunter Magen-Darm-Beschwerden, Gereiztheit und Schlafstörungen sowie ausgeprägte Potenzstörungen, so sein Arzt. Ein Therapieversuch mit Carbamazepin habe ebenfalls nicht zur Verbesserung beitragen können, genauso wie eine von 2014 bis 2016 durchgeführte psychotherapeutische Behandlung. Eine Behandlung mit Lisdexamphetamin sei in Anbetracht eines Amphetaminabusus und einer bipolaren Störung in der Vorgeschichte mit einem erheblichen Risiko verbunden gewesen, sodass darauf verzichtet worden sei. Der Medizinische Dienst hatte keine Erstattung empfohlen, die Kasse hatte abgelehnt.
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