Versorgungsmodelle

Testläufe im Kinzigtal

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Berlin -

Blistersysteme, Anti-Rauchprogramme, eine regionale Arzneimittelkommission – im südbadischen Kinzigtal wird allerhand getestet und ausprobiert. Seit 2006 wird in dem Projekt „Gesundes Kinzigtal“ eine integrierte Vollversorgung entwickelt. Verschiedenste Leistungserbringer arbeiten zusammen und versuchen, die Versorgungskosten zu senken. Geleitet wird das Projekt von einem Pharmazeuten – trotzdem sind die Apotheker kaum integriert.

Das Projekt „Gesundes Kinzigtal“ ist auf zehn Jahre angelegt. Statt kurzfristiger Effekte sollen langfristig Kosteneinsparungen und eine Verbesserung der Gesamtgesundheit erreicht werden. Mit dabei sind die AOK Baden-Württemberg und die Landwirtschaftliche Krankenkasse Baden-Württemberg (LKK) mit insgesamt 31.000 Versicherten in der Region.

Die Leistungen der Regelversorgung rechnen die Ärzte wie gewohnt mit den Krankenkassen ab. Sie erhalten jedoch von der Managementgesellschaft „Gesundes Kinzigtal“ Geld für vertraglich definierte Zusatzleistungen. Diese werden aus einem Topf finanziert, in den das Geld fließt, das die Kassen während der Projektlaufzeit weniger ausgeben. Ob diese Einsparungen tatsächlich durch das Versorgungsmodell entstanden sind, soll eine Evaluation des Projektes zeigen.

Die Idee zu dem Modellvorhaben kam von den Ärzten aus dem Kinzigtal. Sie holten sich vor knapp zehn Jahren Helmut Hildebrandt zu Hilfe: Der Apotheker war nach Abschluss des Studiums bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und in der Medizinsoziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf tätig.

2004 gründete Hildebrandt seine Firma OptiMedis und begann, das Projekt Kinzigtal vorzubereiten. Auftraggeber und Partner in der Managementgesellschaft sind Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten aus dem Kinzigtal, die sich in dem Verein „Medizinisches Qualitätsnetz Kinzigtal“ organisiert haben.

Das Modell richtet sich primär an Mediziner: Inzwischen sind 62 Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten Leistungspartner im Gesunden Kinzigtal – das sind zwei Drittel aller Ärzte. Insgesamt hat die Managementgesellschaft mehr als 250 Partner, darunter auch Sportvereine oder Selbsthilfegruppen. Auch die 16 Apotheken in der Region sollten zunächst über den Landesapothekerverband mit einbezogen werden. Dies scheiterte jedoch, weil keine Einigung über die Honorierung erzielt werden konnte.

Lediglich als 2010 ein Pilotprojekt zur industriellen Verblisterung lief, war der Verband dabei, um ein Auge auf die Aktion zu haben. Damals hatte sich Hildebrandt mit AvidiaMed zusammengetan: Ärzte verschrieben den „Medi-Falter“ des Unternehmens, den Apotheken an Patienten abgaben. Hildebrandt zufolge lief der Test sehr gut, so dass derzeit diskutiert wird, ob aus dem Pilotprojekt eine Routinelösung werden soll. Hildebrandt vermutet, dass sich durch die Blister die Compliance erhöht habe – dies ließe sich allerdings schwer nachweisen. Beim Apothekerverband kritisiert man hingegen, dass die Verbesserungen nicht valide belegt seien.

„Gesundes Kinzigtal“ bietet insgesamt 18 Gesundheitsprogramme, an denen Patienten teilnehmen können. Dazu müssen sie sich zunächst in das Projekt einschreiben. Derzeit sind mehr als 9000 Versicherte Mitglied in dem Versorgungsmodell.

Zunächst wählen die Patienten einen Arzt ihres Vertrauens, der dann gemeinsam mit ihnen eine Zielvereinbarung und den Weg dahin entwickelt. Im Gegensatz zu strengen Managed Care-Konzepten können die Patienten frei wählen, welchen Arzt sie besuchen und an welchen Programmen sie teilnehmen möchten.

Die Apotheker unterstützen das Programm „Rauchfreies Kinzigtal“ im Bereich der medikamentösen Raucherentwöhnung mit Champix (Vareniclin). Patienten, die an dem Programm teilnehmen, zahlen statt des vollen Preises nur 50 Prozent. Die Apotheker schließen einen Vertrag mit der Managementgesellschaft ab, die ihnen den restlichen Betrag erstattet. Die Teilnahme an der Maßnahme koste die Apotheker also nichts, eine Vergütung gebe es aber auch nicht, erzählt eine Apothekerin. Wenn Raucher erfolgreich sind, bekommen sie das gezahlte Geld zurück.

Zu einigen Programmen gibt es bereits erste Evaluationsergebnisse: Demnach bleibt beispielsweise Osteoporose-Patienten jeder zehnte Bruch erspart, wenn sie Bewegungsförderung, Ernährungsberatung und Knochendichte-Messung nutzen. Dank psychotherapeutischer Notfallsitzungen könnten den Wissenschaftlern zufolge Klinikeinweisungen bei psychischen Erkrankungen im Kinzigtal um 2 Prozent zurückgegangen sein, während sie bundesweit um 10 Prozent gestiegen sind.

Der Apothekerverband ist insgesamt skeptisch: Es sei nicht belegt, ob das Projekt die erwarteten Einsparungen erziele oder nur funktioniere, weil viel Geld in die Hand genommen worden sei. Zudem sei offen, wie sich das Modell im freien Feldversuch entwickeln würde.

Derweil wächst das Projekt: Man sei derzeit mit mehreren Krankenkassen im Gespräch, die sich an dem Modellvorhaben beteiligen wollten, sagt Hildebrandt. Mit OptiMedis plant er weitere Netzwerke, um die Kinzigtal-Erfahrungen auch in andere Regionen zu bringen. Dort sei es jedoch nicht so einfach, Ärzte und Krankenkassen auf eine Seite zu bringen wie im Kinzigtal, wo die Initiative von den Medizinern selbst gekommen war.

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