Opfer leiden bis heute

Überfall auf Apothekerfamilie: Täter gesteht vor Gericht

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Hannover -

Am Landgericht Hannover begann heute der Prozess um die Geiselnahme einer Apothekerfamilie. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten Erpressung, Nötigung, Körperverletzung und Diebstahl vor. Der 29-Jährige hat die Tat bereits gestanden. Im dreieinhalbstündigen Prozessauftakt wurden neben dem Angeklagten und dessen Mittäter auch das Apothekerehepaar vernommen, das zudem als Nebenkläger auftrat.

Der Angeklagte befindet sich seit Mitte September in Untersuchungshaft. Das Strafmaß wurde unter Einbezug vorangegangener Straftaten – darunter mehrere Einbrüche – veranschlagt. Der Richter legte hier eine Verständigung zu Grunde: Wenn der Angeklagte die Tat gestehe, würde das seine Haftzeit „erheblich“ reduzieren. Nach Beratung und Vorgesprächen legte die Kammer ein Gesamtstrafmaß von sechs Jahren und drei oder zehn Monaten fest, darunter zwei Jahre für die Geiselnahme.

Die Staatsanwaltschaft, die im Vorfeld mindestens sieben Jahre gefordert hatte, und die Verteidigung stimmten dem zu – der Angeklagte sagte aus.

Angestellte war Informantin

Gemeinsam mit seinem Komplizen habe er den Überfall eine Woche im Voraus geplant. Dessen damalige Lebensgefährtin sei in der Apotheke angestellt gewesen und habe 100.000 Euro im Tresor und 20 Kilogramm Cannabis als Beute in Aussicht gestellt. Sie soll alle notwendigen Informationen – Wohnadresse des Apothekers, Sicherheitssystem der Apotheke, Aufbewahrungsort des Safeschlüssels – geliefert haben.

„Hätten abbrechen können“

Gegen 18 Uhr klingelten die Männer an der Wohnung des Paars, wurden aber auch nach mehrmaligem Versuch nicht ins Haus gelassen. Daher habe der Mitbeschuldigte irgendwann die Tür des Mehrparteienhauses eingetreten, um sich Zugang zu verschaffen. Gegen 18.30 Uhr standen sie vor der Wohnungstür, die nun geöffnet wurde. Zu diesem Zeitpunkt befand sich auch die damals achtjährige Tochter in der Wohnung; ein jüngeres Kind befand sich bei den Großeltern. Der Angeklagte, selbst Vater, will davon nichts gewusst haben. Mit dem Wissen, dass Frau und Kind in der Wohnung seien, hätte er die Tat nicht „durchgezogen“.

Auf Frage der Nebenklage hin, warum er die Tat nicht abgebrochen habe, nachdem klar war, dass Frau und Kind mit in der Wohnung seien, bekräftigte der 29-Jährige: „Man hätte abbrechen können.“ Aber man habe eben schon angefangen. Außerdem habe er unter Drogen gestanden. Schon der während Wartezeit vor dem Haus habe er mehrfach Kokain konsumiert: „Nüchtern hätte ich das so nicht hinbekommen.“ Er sei drogenabhängig; dies sei auch maßgeblich für die Tat gewesen, da er Schulden zu begleichen habe.

Apotheker niedergeschlagen

Unmittelbar nach dem Öffnen der Tür habe das Ehepaar versucht, die maskierten Männer zurückzudrängen. Hier unterscheiden sich die Schilderungen: Während der Angeklagte behauptet, er habe den Apotheker nur deshalb mit dem Schlagstock niedergeschlagen, weil dieser nach einem Gegenstand griff, erklärte der Approbierte, der Angeklagte habe – als er ihn auf den Flur zurückdrängen wollte – direkt mit dem Schlagstock zugeschlagen.

Der Apotheker ging daraufhin mit einer blutenden Wunde am Kopf zu Boden. Das sei nicht seine Absicht gewesen, so der Angeklagte. Er habe ihn „am Arm treffen“ wollen und „versehentlich“ am Kopf getroffen.

Die Männer forderten sofort die Herausgabe des Apothekenschlüssels. Während sein Komplize mit dem Apotheker die Wohnung nach dem Schlüssel absuchte und ihn unter Druck setzte, forderte der Angeklagte Bargeld von der Frau des Apothekers.

„Zuerst das Geld“

Die Ehefrau wurde dabei nach eigener Aussage mit dem Schlagstock bedroht. Als die Tochter auf den Flur trat, stand der Angeklagte zwischen ihr und der Mutter. Als diese forderte, dass ihr Kind zu ihr kommen dürfe, habe der Angeklagte ihr mit „zuerst das Geld“ gedroht. Dabei erbeutete er 70 Euro.

Die Familie wurde nach dem Auffinden des Schlüssels schließlich in die Küche gedrängt; hier habe die Ehefrau den Code des Sicherheitssystems der Apotheke für den Beschuldigten notiert, der daraufhin mit dem Fahrrad zur Apotheke aufbrach. Sein Komplize hielt die Familie in der Küche fest.

In der Apotheke habe er rund 10.000 Euro erbeutet. Da er maskiert von Passant:innen gesehen wurde, habe er vom Cannabis, das sich im Keller befinden sollte, abgelassen und sei geflüchtet. Im Hinterhof habe er seine Kleidung gewechselt. Die getragenen Sachen entsorgte er demnach gemeinsam mit dem Apothekenschlüssel. Im Nachgang habe man das Geld dann in einem Waldstück aufgeteilt – dabei soll ein Teil an die Informantin gegangen sein.

Inhaber „als nächstes dran“

Insgesamt habe die Tat eine Stunde lang gedauert. Bevor der Mittäter flüchtete, erteilte er dem Ehepaar genaue Anweisungen: bis 500 zählen, dann erst Polizei und Notruf verständigen. Auch die Art, wie sie die Täter beschreiben sollten, wurde ihnen vorgegeben. „Man kenne Leute bei der Polizei und würde wiederkommen“, erinnerte sich die Ehefrau. Außerdem hätten die Männer in Aussicht gestellt, dass der Inhaber „als nächstes“ dran sei.

Wortkarger Mitbeschuldigter

Der Mitbeschuldigte, gegen den ein separates Gerichtsverfahren läuft, war ebenfalls als Zeuge geladen. Er wollte anfänglich die Aussage verweigern und seine Anwältin sprechen lassen. Nachdem der Vorsitzende ihn belehrte, beantwortete er die Fragen des Richters einsilbig, räumte aber ein, dass die Tat seine Idee gewesen war. Allerdings habe er weder 100.000 Euro noch 20 kg Cannabis in Aussicht gestellt. Dass er den Angeklagten angewiesen habe, einen Schlagstock mitzuführen, verneinte er.

Nachwirkungen bis heute

Die Apothekerfamilie hat bis heute mit den Nachwirkungen der Tat zu kämpfen. Vater, Mutter und Tochter nahmen oder nehmen psychologische Hilfe in Anspruch. Bis heute muss die Türklingel abends abgestellt werden, damit die Tochter zur Ruhe kommt. „Es prägt unser Leben bis heute“, bekräftigte die Ehefrau des Approbierten. Eine Entschuldigung des Angeklagten lehnte das Ehepaar beim Prozessauftakt ab.

Auswirkungen habe es auch auf den Apothekeninhaber: Dieser habe gegenüber dem Gericht in einem Vorgespräch, aber auch gegenüber dem Angestellten betont, die Apotheke verkaufen und auswandern zu wollen, da er sich nicht mehr sicher fühle.

Die Verhandlung wird im November fortgesetzt.

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