Vergleichsstudie mit Nachbarländern

Pflegeleistungen: „Deutsche Patient:innen werden alleingelassen“

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Berlin -

Verglichen mit einigen Nachbarländern schneidet Deutschland im Hinblick auf die Koordinierung von Gesundheitsversorgung und Pflege schlecht ab. Ältere Patient:innen, die nach einem stationären Krankenhausaufenthalt weitestgehend selbstständig bleiben möchten, dazu aber Unterstützung benötigen, haben es oft schwer. Das konnten Wissenschaftler:innen der Uni Siegen und des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung belegen.

Vor allem ältere Patient:innen, die nach der stationären Behandlung im Krankenhaus auf unbestimmte Zeit professionelle Hilfe benötigen, um in der eigenen Wohnsituation zu bleiben, haben es in Deutschland schwer. Das hat eine vergleichende Studie zum Übergang von der Krankenhausversorgung zur Anschlussversorgung zu Hause oder im Heim nun belegt.

Im Gegensatz zur Situation in Schweden, den Niederlanden und der Schweiz fehlt es in Deutschland schlicht an funktionierenden Strukturen, qualifiziertem Personal und klaren Zuständigkeiten. Für die Studie führten die Wissenschaftler:innen in den vier Ländern Interviews mit Organisationen und Akteuren durch, die für die Durchführung von Pflege zuständig sind.

„In Deutschland ist es in erster Linie Aufgabe der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen, notwendige Pflegeleistungen nach einem Krankenhausaufenthalt zu organisieren“, so der Siegener Gesundheitssoziologe und Leiter der Studie, Dr. Claus Wendt.

Einzige Schnittstelle: Entlassmanagement

Bisher gebe es als einzige Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung das Entlassmanagement der Krankenhäuser: „Es steht jedoch häufig zu wenig Zeit zur Verfügung. Durch die Finanzierung der Krankenhausleistungen nach Fallpauschalen hat sich die Verweildauer im Krankenhaus seit den 90er Jahren immer weiter verkürzt. Unter den aktuellen Bedingungen ist das deutsche System für alle Beteiligten eine Zumutung“, so Wendt.

„Ältere Menschen benötigen meist unterschiedliche Leistungen und sind auf die Kooperation mehrerer Anbieter angewiesen. Das macht die Sache komplex – zumal es in Deutschland kein digitales System gibt, in dem Pflegedienste und -Einrichtungen mit ihren Kapazitäten erfasst sind. Dann haben Sie in einer Region zehn verschiedene Anbieter – wissen aber nicht: Wo sind noch Plätze frei?“

Trauriges Fazit der Studie: In keinem der drei Vergleichsländer sind Patient:innen und ihre Familien derart auf sich gestellt wie in Deutschland. Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise Schweden und die Niederlande mit einem durchdachten Hausarzt-System:

  • Patient:innen sind in diesen Ländern bei den Hausärzt:innen in einer Liste eingetragen.
  • Die Ärzt:innen werden informiert, sobald die Entlassung eines Patienten ansteht.
  • Als Primärversorger sind die Hausärzt:innen automatisch in die Organisation der notwendigen Pflegeleistungen eingebunden und übernehmen die Koordination mit dem Krankenhaus.

„In Deutschland denken wir so gar nicht. Bei uns sind der ambulante und der stationäre Sektor strikt voneinander getrennt.“

Kommunen stärker einbinden

In anderen Ländern sind zudem auch die Kommunen in die Koordination von Pflegeleistungen eingebunden. Ein Beispiel sei laut Wendt die Schweiz: „Als nicht-kommerzielle Akteure unterstützen Kommunen ältere Menschen dort umfassend. Pflegeleistungen und Dienste wie Einkäufe, Essen auf Rädern oder Behördengänge werden organisiert.“ Ein Lösungsansatz sei laut Wendt, dass sich in Deutschland die Kommunen zum Beispiel über die Pflegestützpunkte stärker einbringen könnten, die aktuell in einigen Bundesländern aufgebaut werden.

„Pflegestützpunkte werden auf Initiative der Länder von den Kranken- und Pflegekassen eingerichtet und sollen jeweils vor Ort das gesamte Leistungsspektrum für Pflegebedürftige organisieren, das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, so Wendt. „Leider gibt es die Stützpunkte noch nicht überall.“

Personalmangel und Hürden

In Deutschland gebe es auch zu wenig qualifiziertes Personal: „In Schweden und in den Niederlanden gibt es sogenannte Nurse Practitioners. Das sind hochqualifizierte Pflege-Expert:innen, die als Angestellte der Kommunen in Schweden oder der Sozialversicherungen in den Niederlanden ebenfalls wichtige Koordinationsleistungen übernehmen.“

Deutschland würde bei der Akademisierung der Pflege weit hinterherhinken, so Wendt. „Dabei ist der Druck schon jetzt hoch und wird angesichts des demografischen Wandels noch steigen.“ Ein weiterer Vorschlag des Gesundheitssoziologen um die Situation für Patient:innen und ihre Angehörigen in Deutschland zu verbessern, sei der Aufbau größerer Strukturen: „Ambulante Medizinische Versorgungszentren und große Krankenhauszentren könnten mehr Aufgaben bei der Koordination von Pflegeleistungen übernehmen. Auch die Kommunen müssten stärker eingebunden – dafür aber auch an der Finanzierung beteiligt werden.“

„Wir brauchen qualifiziertes Personal“

Den Aufbau als Sozialversicherungssystem ohne intensive Einbindung der Kommunen sieht er als eine Fehlentwicklung an. „Neben solchen strukturellen Voraussetzungen bräuchte es mehr qualifiziertes Pflegepersonal und eine bessere digitale Infrastruktur. Die finanzielle Trennung zwischen ambulantem, stationärem und Pflege-Bereich durch übergreifende Finanzierungselemente muss aufgehoben werden.“ Das würde laut Wendt eine kontinuierliche Versorgung erleichtern und organisatorische Hürden abbauen.

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