Abrechnungen von Rezepturen, bei denen Fertigarzneimittel verwendet werden, haben das Bundessozialgericht (BSG) beschäftigt. Im Streit zwischen einer Apotheke und der AOK Nordwest hat die Apothekerin aus Westfalen-Lippe letztinstanzlich vom Bundessozialgericht (BSG) Recht bekommen: Apotheken dürfen die ganze Packung abrechnen.
Aufgrund der Bedeutung des Verfahrens hatte der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) die Apotheke unterstützt. „Für die sichere, hochqualitative und flächendeckende Versorgung der Patienten ist dies ein guter Tag“, meint daher heute Verbandschef Thomas Rochell anlässlich der Entscheidung. Angebrochene Packungen zu entsorgen und nur einen kleinen Teil erstattet zu bekommen, mache Rezepturen komplett unwirtschaftlich. „Apotheken müssten dann noch Geld mitbringen, um ihre Patienten versorgen zu können. Das kann nicht sein.“
Die Entscheidung sei richtungweisend für weitere anstehende Verfahren, wie bei einer aktuellen Klage einer Apotheke aus Münster, ebenfalls gegen die AOK Nordwest. „Es bleibt zu hoffen, dass der GKV-Spitzenverband die Zeichen der aktuellen Entscheidung des BSG auch mit Blick auf diesen sowie weitere Fälle versteht und an den Verhandlungstisch zurückkehrt und endlich die Notwendigkeit einer fairen Vergütung von Rezepturen erkennt, statt Versichertengelder in jahrelangen Rechtsstreitigkeiten zu vergeuden.“
Vor dem BSG ging es um 89,38 Euro – und die grundsätzliche Frage, wie mit Anbrüchen umzugehen ist. Gestritten wurde über Rezepturen, die in den Jahren 2018 und 2019 in einer Apotheke in Nordrhein-Westfalen hergestellt und in denen unter anderem das nicht verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel Mitosyl (mittlerweile außer Vertrieb) und das Kosmetikum Neribas verarbeitet worden waren. In der jeweils kleinsten Größe enthielten die Originalpackungen 65 g beziehungsweise 100 ml, verarbeitet wurden jeweils deutlich geringere Mengen.
Die AOK Nordwest war der Ansicht, dass nur die tatsächlich verarbeitete Menge anteilig zu berücksichtigen sei und retaxierte elf Verordnungen für zwei Versicherte, insgesamt 112 Euro. Zusätzlich wurde gleich beanstandet, dass die Rezepturen nicht in der jeweils preisgünstigsten Kruke abgegeben wurden.
Die Apotheke legte Einspruch ein. Es gebe keine Verpflichtung, Reste von benötigten Fertigarzneimitteln aufzubewahren. Für jede Rezeptur sei eine neue Tube Mitosyl benutzt worden, die eigens dafür beim Großhändler bestellt worden sei. Es sei Apotheken auch nicht möglich, die Verwendung von Anbrüchen zu antizipieren, zumal sie keine Kenntnis über weitere Verordnungen habe.
Die Kasse verwies darauf, dass Mitsoyl nach Herstellerangaben sechs Monate haltbar sei, sodass spätere Rezepturen ohne Weiteres aus einer angebrochenen Tube hergestellt werden könnten. Dementsprechend erkenne man für eine Abrechnung des Einkaufspreises einer vollen Tube an, für die jeweils folgenden sechs Monate dann aber nicht mehr. Den Anbruch nach Entnahme einer Teilmenge zu verwerfen, sei in keiner Weise wirtschaftlich. Sie hat zuletzt geltend gemacht, nach der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) seien Einkaufspreise nur jeweils entsprechend der tatsächlich verarbeiteten Menge anteilig im Verhältnis zu den Einkaufspreisen der üblichen Abpackung und erforderlichen Packungsgröße zu berücksichtigen und hierauf Zuschläge zu erheben gewesen; die darüber hinausgehende Vergütung der jeweils abgerechneten Rezepturarzneimittel sei zu retaxieren gewesen.
Das Sozialgericht Münster (SG) wies die Argumentation der AOK als „realitätsfern“ zurück: So sei bei einem Rezepturarzneimittel, das etwa aus einem zwei Monate alten Anbruch hergestellt werde, dessen Haltbarkeit entsprechend reduziert; hier könne es bei längerfristigem Bedarf aufgrund des Ablaufdatums dann zu verfrühten Neuverordnungen kommen.
Auch das Landessozialgericht NRW kam zu der Einschätzung, dass die Retaxation zu Unrecht erfolgt sei. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik der Preisbildung nach AMPreisV beziehungsweise Hilfstaxe lasse sich diese Sichtweise ableiten. Vielmehr sei bei der Abrechnung von Rezepturarzneimitteln vom Einkaufspreis der üblichen Abpackung auch dann auszugehen sei, wenn bei der Zubereitung der Inhalt der üblichen Abpackung und der erforderlichen Packungsgröße nicht vollständig verbraucht werde. Die Einkaufspreise seien dann nicht auf die tatsächlich benötigte Menge herunterzurechnen. Aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot folge nichts anderes. Der Umgang mit Anbrüchen sei nur für parentale Zubereitung geregelt, daraus lasse sich aber gerade nichts für andere Zubereitungen ableiten.
Auch sei die Kasse jeden Beweis dafür schuldig geblieben, dass die Apotheke etwaige Anbrüche von Mitosyl und Neribas verwahrt und für ihre Versicherten verwendet hätte. Die gesamte Grundlage ihrer Argumentation entlarve sich daher als „unbelegte Unterstellung“. Im Übrigen wäre nach der Logik der AOK genauso denkbar, dass sie überhaupt keinen Preis zahlen müsse, wenn eine andere Krankenkasse bereits die komplette Packung beglichen habe.
Zusätzliche Bedeutung hat der Prozess auch deswegen, weil die Hilfstaxe mittlerweile nicht mehr gilt und die Kassen wegen der veränderten Preisberechnung bereits massenhaft Retaxationen ausgesprochen haben. Das BMG will in der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) regeln, dass bei der Verarbeitung von Fertigarzneimitteln nur Teilmengen abgerechnet werden können.
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