GKV-Finanzen

Kann Selbstmedikation das System entlasten?

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Berlin -

Die Finanzlage der GKV ist kritisch. Es drohen erneut Beitragssteigerungen, dementsprechend groß ist der Druck, der auf der Politik lastet, das System zu stabilisieren. Die beiden Parlamentarischen Staatssekretäre im Bundesgesundheitsministerium (BMG), Tino Sorge und Dr. Georg Kippels (beide CDU), haben unlängst betont, dass es auch mehr Eigenverantwortung der Versicherten brauche. Könnte ein Fokus auf Selbstmedikation eine Lösung sein? Darüber diskutierten Vertreter aus Politik, Industrie, Krankenkassen und Apotheken sowie Ärzte heute auf der Jahrestagung von Pharma Deutschland.

Dr. Isabella Erb-Herrmann, AOK Hessen, erklärte, Prävention sei der Schlüssel. Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), widersprach: „Ich glaube nicht, dass wir die aktuellen Finanzprobleme durch Prävention heilen können.“ Zwar brauche es eine Stärkung der Gesundheitskompetenz und Prävention, aber aktuell sei das nicht die Lösung.

„Ich glaube, die Selbstmedikation ist ein Weg, um das System zu entlasten“, sagte Dr. Stefan Koch (Klosterfrau), Vorstandsmitglied und Vorsitzender des Landesverbandes Europa von Pharma Deutschland. Er verstehe nicht, warum in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern viele Medikamente für Bagatellerkrankungen nicht von der Verschreibungspflicht ausgenommen seien. Damit könne man auch die Arztpraxen entlasten.

Apothekengeführte Selbstmedikation

„Wenn wir kein gutes Verständnis davon haben, was Selbstmedikation leisten kann, dann hat man auch keine Ahnung, was ein Switch bewirken kann“, gab Cosima Bauer, Geschäftsführerin bei May und Bauer, zu bedenken. Selbstmedikation, gerade wenn sie über die Apotheke erfolge, könne wirklich etwas leisten. Wenn gerade in der Erkältungssaison Patienten nicht die Praxen verstopften, könnten die Versorger entlastet werden.

Auch Dr. Hans-Peter Hubmann, DAV, betonte: „Gott sei Dank schlägt der Kunde auch wirklich in der Apotheke auf und nicht im völlig ungeregelten Supermarkt.“ Durch die Apothekenpflicht sei der Kunde bei einem wirklichen Heilberufler. Der Apotheker müsse darauf achten, dass der Patient auch eine sichere Selbstmedikation erhält, denn die Gesundheitskompetenz sei in den vergangenen Jahren schwächer geworden. „Deswegen ist der OTC-Switch in die Apotheke verantwortungsvoll und gut, und wir können dort auch entlasten.“ Trotzdem sei bei einigen Produkten ein Arztvorbehalt richtig, fügte Hubmann hinzu.

Kippels spreche lieber von Gesundheitskenntnis. Viele würden jetzt im Herbst mit Halsschmerzen und Schnupfen zum Arzt gehen und würden nach Antibiotika fragen – ohne Diagnose. „Wie könnte man hier mit dem Switch umgehen?“, fragt Kippels. Bestimmte Krankheitsbilder würden mit pharmakologischer Unterstützung außerhalb des Rx-Bereichs und gewisser Zeit wieder weggehen. Unterstützung würde der Patient in der Apotheke bekommen und dort auch zu Geduld ermahnt. Die Befähigung, beobachten und abwarten zu können, sei entscheidend – statt auf Antibiotika zurückzugreifen. „Wir brauchen wieder Erfahrung und Kenntnisvermittlung“, erklärte er.

„Ich glaube nicht, dass Selbstmedikation zur Entlastung des Systems beiträgt“, so Reinhardt. In Ländern, in denen deutsche Rx-Medikamente in der Selbstmedikation zu finden seien, würde man ein erhöhtes Vorkommen an resistenten Keimen feststellen. Daher habe er sich auch vehement gegen die Freigabe von Bagatellerkrankungen wie Harnwegsinfektionen in der Apothekenreform gewehrt. Es seien allerdings nicht gewünschte Medikamente, wegen denen Patienten mit Halskratzen die Praxen verstopften: „Was sie aber auf jeden Fall brauchen, ist die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“, erklärte er. „Ich bin Verfechter davon, dass der Patient die ersten fünf Tage ohne Arztkontakt zu Hause bleiben kann, aber davon teils zwei, drei Tage unbezahlt sind“, fuhr er fort.

„Patientensicherheit ist Teamplay“

Kippels betonte: „Wir mahnen uns wechselseitig zur Patientensicherheit, aber die kann niemals an einer einzigen Person festgemacht werden.“ Ein Beispiel seien Wechselwirkungen, wenn unabhängig voneinander verschiedene Ärzte verordneten und zudem noch OTC-Medikationen hinzukämen. Das würde vor allem in der Apotheke auffallen. „Deshalb ist Patientensicherheit ein Teamplay“, so Kippels.

Bauer erklärte: „Wir wissen, dass jede zweite Packung in Deutschland ein Selbstmedikationsmittel ist.“ Da sei der ökonomische Nutzen greifbar, das sei schon ein Kostenfaktor, der im System einschlage. Man müsse die Möglichkeiten der Apotheke nutzen, auch Prävention in die Apotheke tragen und das Thema Früherkennung an die Leute bringen, niederschwellig anbieten. Impfungen in der Apotheke würden anlaufen, erklärte sie. „Die Menschen sind interessiert daran, das direkt dort angeboten zu bekommen, wo sie sind – und sie sind in der Apotheke.“

Koch erklärte: „Rx-Arzneimittel kosten im Schnitt 14 Euro, OTC 4 Euro – die Entlastung für die Kasse ist klar.“ Gleichzeitig sei auch klar, dass die Pharmabranche ausgequetscht sei.

„Noch haben wir rund 16.500 Apotheken in der Fläche“, so Hubmann. Die Apotheker seien der einzige akademische Heilberufler, zu dem man jederzeit und ohne Termin gehen könne. Außerdem leisteten die Apotheken auch Nacht- und Notdienste. Immer noch würden Menschen in die Notaufnahmen gehen, die eigentlich nicht dorthin gehörten. „Deswegen: Gesundheitskompetenz in der Apotheke“, forderte er. Die Apotheke habe eine Wächterfunktion, erklärte Hubmann. Besonders wichtig sei das auch bei der Selbstmedikation: Der Apotheker würde hier nach der Dauermedikation fragen, wenn der Patient wegen einer Erkältung Mittel in der Apotheke kaufen wolle. Damit würden Wechselwirkungen und im schlimmsten Fall Krankenhausaufenthalte verhindert.

Steuerung im System

Reinhardt erklärte: „Wir haben ein extrem arbeitsteiliges, komplexes Gesundheitswesen – dabei ist es problematisch, es allein den Patienten zu überlassen, wo sie wann wohin gehen.“ Die Wege müssten koordiniert werden.

Kippels brachte Tarife in die Diskussion. So könne man einen jährlichen Betrag für Arzneimittel deckeln, um Anreize zu schaffen bei Bagatellerkrankungen mehr Selbstverantwortung zu übernhmen. „Unser Solidarsystem ist eben kein Selbstbedienungsladen“, betonte Kippels.

Erb-Hermann ergänzte: „Es gibt dieses Denken: ‚Ich habe Anspruch‘. Aber keine Balance zwischen: ‚Ich habe auch Pflichten‘ – wo hat man im Gesundheitswesen eigentlich Pflichten? Da muss man lange suchen.“ Es brauche Steuerung, denn wenn etwas sehr fragmentiert ist, dann müsse man die Patienten an die Hand nehmen und führen. Es brauche eine Primärversorgung, nicht nur ärztezentriert. Elementar sei eine Ersteinschätzung: „Du gehst zur Apotheke, du zum Arzt, du zur Notaufnahme“ – Die nötigen Reformen im Gesundheitswesen müssten zusammen angegangen werden.

Reinhardt sprach sich ebenfalls für Ersteinschätzungstools aus. Mit den Apotheken habe man eine solche Stelle, erklärte Koch. Das würde den Ärzten helfen. Eigenverantwortung und Eigenbeteiligung müsse gekoppelt werden, so Erb-Hermann. Und alles, was ein Patient für seine Gesundheit tue, solle in die ePA eingetragen werden, forderte Kippels, damit fachkundige Menschen aus allen Bereichen die Möglichkeit haben, den Patienten richtig einzuschätzen.

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