Zu hohe Arzneimittelpreise

Höherer Zwangsrabatt: AOK attackiert Pharmaindustrie

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Berlin -

„Die Arzneimittelpreise in Deutschland sind hoch – sehr hoch – und sie sind so hoch wie zuvor“, findet Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende vom AOK Bundesverband. „Aber sind sie trotzdem angemessen im Sinne von ‚eine gute Versorgung hat einen Preis‘?“ Sie forderte eine Novellierung des AMNOG mit stärkerem Fokus auf Nutzenbewertungen und betonte, dass die Pharmabranche bei Effizienz- und Sparmaßnahmen nicht ausgenommen werden dürfe. Mit der Erhöhung des Herstellerrabatts ließen sich kurzfristig GKV-Milliarden einsparen.

Die Arzneimittelausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hätten im Jahr 2024 mit 59,3 Milliarden Euro einen neuen Höchststand erreicht und seien damit der zweitgrößte Ausgabenposten. Allein gegenüber dem Vorjahr seien sie um etwa 10 Prozent gestiegen. Seit 2011 – Einführung des AMNOG – hätten sie sich mehr als verdoppelt.

Die Kostensteigerungen würden sich Prognosen zufolge auch in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, erklärte Helmut Schröder, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Im ersten Halbjahr seien die Netto-Arzneimittelausgaben erneut um knapp 5 Prozent gestiegen und für das Gesamtjahr gehe man von einer Zunahme von mehr als 5 Prozent aus. „Angesichts aktuell fehlender gesetzlicher Maßnahmen werden die Ausgaben auch 2026 ungebrochen um denselben Prozentsatz steigen“, erklärte er. Schätzungen zufolge würden die Nettokosten dann auf mehr als 65 Milliarden Euro steigen.

AMNOG weiterentwickeln

Das AMNOG solle einen sofortigen, breiten Zugang der Patientinnen und Patienten zu neuen Arzneimitteln ermöglichen. Zahlreiche Anpassungen hätten zu einer Schwächung der ursprünglichen Systematik geführt. Die beabsichtigten Preisregulationsmechanismen würden nicht mehr ausreichend greifen, kritisierte Reimann.

Zusätzlich stelle die steigende Zahl an Therapien mit geringer Evidenz das Verfahren vor Probleme. „Das AMNOG muss dringend weiterentwickelt werden und der Fokus dabei muss auf einer angemessene Preisbildung neuer Arzneimitteln und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung stehen“, forderte Reimann. Denn der massive Anstieg der Ausgaben könne nicht, wie oft vermutet, mit der älter werdenden Gesellschaft erklärt werden.

Der Anstieg basiere vor allem auf den Bereich der patentgeschützten Arzneimittel. Mehr als die Hälfte der Ausgaben gingen auf sehr hochpreisige Arzneimittel zurück, obwohl sie nur einen ganz kleinen Teil der tatsächlich verordneten Therapie ausmachten. 2024 seien lediglich 7 Prozent der verordneten Tagesdosen auf patentgeschützte Arzneimittel entfallen, dafür seien allerdings 32 Milliarden Euro aufgewendet worden. „Das entspricht fast 54 Prozent des gesamten Arzneimittel-Etats“, betonte Reimann.

Es gebe eine Entkopplung zwischen den Preisen und dem therapeutischen Nutzen, kritisierte Schröder. „Hier gilt es nun nachzusteuern.“ Hochpreiser würden von Herstellern immer mehr in den Markt gebracht. Mittlerweile entfalle fast die Hälfte des Umsatzes auf Hochpreiser, der Anteil habe sich verdreifacht in den letzten zehn Jahren. Es betreffe nicht mehr nur die klassische Krebsmedikation, sondern immer mehr kleine Orphan Drugs, bei denen dann mehr Indikationen aufgerufen würden.

Nach der Grundlogik des AMNOG-Verfahrens solle eigentlich mehr Nutzen auch mit einem angemessenen Preis bezahlt werden. „Das Problem ist aber, dass genau dieser Nutzennachweis allzu häufig fehlt“, so Reimann. Der Marktzugangspreis sei frei wählbar und oftmals überhöht.

Die Regulatorien in Deutschland seien auf diesen Mangel – unzureichende Evidenz und überhöhte Preise – nicht eingerichtet. „Und erst recht nicht darauf, dass die pharmazeutischen Unternehmen zunehmend Umgehungsstrategien verfolgen, mit denen sie den Zusatznutzen nicht nachweisen müssen, aber dennoch extrem hohe Preise aufrufen“, kritisierte sie.

In Folge dieser unzureichenden Regulierung kämen immer mehr Arzneimittel für eine zunächst kleine Zahl an Patientinnen und Patienten auf den Markt. Diese Arzneimittel seien bis zum Erreichen einer Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro von einer umfassenden Nutzenbewertung freigestellt. Per Gesetz werde diesen Medikamenten erstmal so ein Zusatznutzen unterstellt – „oft allerdings zu Unrecht“. In vielen Fällen könne dieser Zusatznutzen nachfolgend nämlich nicht bestätigt werden.

Trotzdem bleibe eine angemessene Reduktion der hohen Preise im Nachhinein aber nicht mehr möglich. Auch nicht, wenn mit weiteren Anwendungsgebieten die Zahl der Behandlungsfälle deutlich steige. „Das ist nicht nur teuer für die Beitragszahlenden – vor allem ist aber die fehlende Transparenz auch für Patientinnen und Patienten mit Blick auf ihren eigenen Nutzen alles andere als zufriedenstellend“, kritisierte Reimann.

Klare Kopplung an Evidenz

Als Lösungsvorschlag sollten Arzneimittel mit unsicherer Evidenz künftig ausschließlich in qualifizierten Zentren für Fälle mit hohem medizinischen Bedarf eingesetzt werden. Die Erstattung solle zudem an die weitere Evidenzgenerierung gekoppelt sein, forderte Reimann.

Außerdem gebe es Anpassungsbedarf am AMNOG auch hinsichtlich des Arzneimittelpreises in den ersten sechs Monaten, in denen der Hersteller den Preis frei feststellen kann. Das führe zu teilweise „astronomischen Preisen“, die als Benchmark in die Preisverhandlungen einfließen würden.

„Eine völlig freie Preisfestsetzung durch die pharmazeutische Industrie, selbst bei unklarer Nutzenbewertung und zulasten der Beitragszahlen, ist weder fair noch wirtschaftlich. Und sie entspricht auch nicht dem Grundgedanken des AMNOG“, so Reimann. Um das System finanzierbar zu halten, solle ein Interimspreis ab Marktzugang eingeführt werden, der sich an der Höhe von Vergleichstherapien messen solle.

Doch die aktuellen politischen Weichenstellungen der vergangenen Jahre gingen in eine andere Richtung: So habe die letzte Bundesregierung mit dem Medizinforschungsgesetz (MFG) wieder Geheimpreise ermöglicht. „Diese Geheimpreise sind als völlig falsches Signal“, so Reimann. Denn das System basiere auf Preisvergleichen.

Herstellerrabatt und Mehrwertsteuersenkung

Das AMNOG sei auch Thema im Pharmadialog. Zwar sei es sinnvoll, die Pharmaindustrie zur Leitindustrie zu machen, allerdings dürfe das nicht dazu führen, dass die Pharmaindustrie von Effizienz- und Sparanstrengungen ausgenommen werde, betonte Reimann.

„Die GKV ist ein solidarisches System, das die bestmögliche Gesundheitliche Versorgung ihrer Versicherten gewährleistet“, betonte Reimann. Zur Aufgabe der Kassen gehöre nicht, Wirtschaftsförderung zu finanzieren, stellte sie klar. Zur Standortförderung müssten entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen und Haushaltsmittel verwendet werden.

Durch eine kurzfristige Anhebung des Herstellerrabattes von 7 Prozent auf 16 Prozent – „das könnte die Pharmabranche gut verschmerzen“ – könnte die GKV auf einen Schlag um 1,8 Milliarden Euro entlastet werden. Auch eine reduzierte Mehrwertsteuer auf Arzneimittel wäre ein guter Schritt, um die Ausgabenentwicklung zu dämpfen, führte Reimann an.

Mehr Wirtschaftlichkeit bei Verordnungen

Auch bei Verordnungen könne mehr Wirtschaftlichkeit erreicht werden. So erklärte sie, dass Praxissysteme künftig auch wirkstoffübergreifend wirtschaftliche Therapiemöglichkeiten aufzeigen sollten. Auch mit Biosimilars ließe sich mehr Wirtschaftlichkeit erreichen. Die Entscheidung des G-BA, breitere Substitution zu ermöglichen, liefere die Voraussetzungen.

„In finanziell angespannten Zeiten wird schnell die Frage nach Zuzahlungen und Leistungskürzungen aufgeworfen. Aus unserer Sicht ist das der falsche Weg“, stellte Reimann klar. Bevor Patientinnen und Patienten zur Finanzierung ihrer Versorgung immer tiefer in die Tasche greifen müssten, sollten zunächst bestehende Wirtschaftlichkeitsreserven adressiert werden.

Forschung aus öffentlicher Hand

Zur Frage der Fairness gehöre zudem auch, dass künftig die Forschungs- und Entwicklungskosten (F&E) der Pharmaindustrie transparent gemacht werden, erklärte Dr. Claudia Wild vom Austrian Institute for Health Technology Assessment. Der aktuelle Mangel an Transparenz führe oft zu einer doppelten öffentlichen Finanzierung von Arzneimitteln: einmal über Steuern, die über die Forschungsförderung auch den Pharmaunternehmen zugutekommen, und zudem über die Kosten für Arzneimittel – deren hohen Preise vor allem auch über die teure Forschung und Entwicklung gerechtfertigt würden. „Derzeit macht sich die Pharmaindustrie das Fehlen einer standardisierten Berichterstattung über öffentliche F&E-Ausgaben zunutze, um den Mythos aufrechtzuerhalten, ganz allein Unsummen dafür auszugeben“, erklärte Wild.

Hinsichtlich des Sparpakets erklärte Reimann, die aktuelle Situation sei natürlich schwierig. Die Kassen hätten ihre Haushalte kalkuliert und aufgestellt. „Das ist jetzt eine echte Hängepartie und man kann nur hoffen, dass es vor Weihnachten noch einen Abschlusspunkt im Bundesrat gibt.“

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