Wenn Arzneimittelpreise weiter steigen, droht dem System der Kollaps. Zu diesem Schluss kommt der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege (SVR) in seinem aktuellen Gutachten. Die zentrale Empfehlung: Preise für neue Medikamente sollen künftig am tatsächlichen Mehrwert für Patientinnen und Patienten gemessen werden.
Der medizinisch-technische Fortschritt bringt viele innovative Arzneimittel hervor – für Patientinnen und Patienten stiegen damit die Chancen auf Linderung oder sogar Heilung. Im europäischen Vergleich mache das deutsche Gesundheitssystem neue Medikamente zwar schnell zugänglich, allerdings mit einem Haken: Die Entwicklung ist laut SVR von rasch steigenden Arzneimittelausgaben begleitet, die die Krankenkassen zunehmend belasteten.
Die Ausgaben für Arzneimittel in der GKV sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Sie machten inzwischen den zweitgrößten Kostenblock aus. „In den vergangenen Jahren beobachten wir insbesondere bei der Markteinführung innovativer Arzneimittel immer höhere Preise“, erklärt Professor Dr. Leonie Sundmacher, Gesundheitsökonomin der TU München. Vor 15 Jahren hätten die Kosten für ein neu eingeführtes, patentgeschütztes Arzneimittel im Schnitt bei 1000 Euro gelegen – heute seien es rund 50.000 Euro, bei neuartigen Gentherapien teils sogar deutlich mehr, so Professor Dr. Jochen Schmitt, Sozialmediziner und Versorgungsforscher von der TU Dresden.
Wenn sich diese Entwicklung fortsetze, drohe eine Überforderung des Systems. Der SVR empfiehlt in seinem Gutachten daher ein lernendes System mit regelmäßiger Überprüfung und Neubewertung. Es soll eine kontinuierliche Preisanpassung geben, bei der der tatsächliche Nutzen überprüft und der Preis entsprechend – in beide Richtungen – angepasst wird. Höhere Preise seien nur für Arzneimittel gerechtfertigt, die einen echten Zusatznutzen böten. „Wir müssen den Arzneimittelpreis stärker an den Mehrnutzen für den Patienten koppeln“, erklärt Professor Dr. Nils Gutacker, Gesundheitsökonom der University of York (UK).
Orphan Drugs komme dabei eine besondere Rolle zu, da bei diesen oft keine großen randomisierten Studien möglich seien. Hier sollten Behandlungsdaten genutzt werden. Dafür brauche es einen Ausbau der Dateninfrastruktur. „Wir müssen die Preisbildungsmechanismen bei neuen innovativen Arzneimitteln überprüfen“, erklärt Professor Dr. Michael Hallek, Onkologe von der Universität zu Köln und Vorsitzender des SVR.
Für neuartige Behandlungsmethoden, etwa Gentherapien, die nur einmal angewendet werden müssen, sollte ein Pay-for-Performance-Ansatz greifen – der volle Preis solle nur dann gezahlt werden, wenn der tatsächliche Nutzen nachgewiesen ist.
„Sie widmen sich da einem schwierigen Thema“, so Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Die Preisfindung bei Arzneimitteln sei anspruchsvoll, da sie den Spagat zwischen schnellem Zugang, Standortstärkung und Preiskontrolle erfordere.
Die GKV-Ausgaben für verschreibungspflichtige Arzneimittel seien im vergangenen Jahr um knapp zehn Prozent gestiegen, so die Ministerin. „Das gilt es natürlich im Blick zu behalten“, erklärt Warken – vor allem im Hinblick auf Beitragssteigerungen, „die wir unbedingt vermeiden wollen“, um den Wirtschaftsstandort in Schwung zu bringen.
Es seien herausfordernde Zeiten: Einerseits gelte es, eine gute Versorgung sicherzustellen, andererseits müsse man auch die Finanzierung im Blick behalten. Das Gutachten werde man sich nun anschauen und prüfen.
Es brauche eine automatische Preisregulierung, wenn eine günstigere Vergleichstherapie verfügbar sei. In den Verhandlungen mit der Pharmaindustrie müsse die Verhandlungsbasis der GKV gestärkt werden, so der SVR. Dazu gehöre, dass sich Krankenkassen auch aus Verhandlungen zurückziehen könnten. Zudem sollten Arzneimittel vor Abschluss der Preisverhandlungen nicht zu den von den Herstellern bei Markteinführung festgesetzten Preisen erstattet werden. Denn dieser erste Erstattungspreis habe eine „Ankerwirkung“. Die Solidargemeinschaft müsse das Recht haben, auch selbstständig zu überprüfen.
Die Förderung des Pharmastandorts Deutschland sei richtig und wichtig, auch um die Abhängigkeit von Drittstaaten zu reduzieren. Sie dürfe jedoch nicht aus Mitteln der Solidargemeinschaft finanziert werden, so Gutacker.
Pharmazeutische Unternehmen hätten eine hohe wirtschaftliche Bedeutung für Deutschland und müssten unterstützt werden – jedoch mit einem differenzierten Kriterienkatalog: Hier müssten andere Kriterien für Forschung und Entwicklung gelten als für die Produktion.
Klinische Studien in Deutschland liefen zu langsam und ineffizient. Für pharmazeutische Unternehmen seien effiziente Verfahren und eine funktionierende digitale Forschungsinfrastruktur entscheidend – nicht in erster Linie hohe Arzneimittelpreise, so Sundmacher.
Deutschland könne mit der ePA und dem Ausbau eines vernetzten, digitalen Forschungsdatenzentrums Gesundheit sowie verbesserter Registerstrukturen gegensteuern. Eine Kopplung von Preisgestaltung an Standortentscheidungen lehnt der SVR allerdings ab: Hersteller seien nicht auf unmittelbare Nähe zum Absatzmarkt angewiesen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen sollten daher gezielter eingesetzt werden. Hohe Preise allein seien nicht zielführend, ebenso wenig pauschale Vereinfachungen.
Stattdessen seien der Abbau unnötiger Bürokratiehemmnisse und der Ausbau der Forschungsdateninfrastruktur entscheidend. Die Nutzung von Registern durch pharmazeutische Unternehmen diene letztlich der gesamten Bevölkerung und solle daher hauptsächlich öffentlich finanziert, mit moderaten Nutzungsgebühren belegt werden. Die Register seien zudem wichtig für die Preisfindung.
Deutschland müsse bei der Digitalisierung aufholen – das allein werde jedoch nicht ausreichen. Vorgeschlagen wurde eine zentrale Anlaufstelle für klinische Studien.