Ein kurzer Kameraschwenk durch die Rezeptur, ein spärlich bestückter Substanzenschrank, sechs Arbeitsplätze für Millionen Kundinnen und Kunden: Nach einem anstrengenden Arbeitstag entführte diese Szene im RTL-Abendprogramm einen Amtsapotheker aus Nordrhein-Westfalen in einen Fiebertraum zwischen Realität und Wahnsinn.
Lutz Müller aus Drolshagen-Kalberschnacke landet nach einem langen, zähen Tag auf seiner heißgeliebten Couch. Stundenlang hatte er Akten gewälzt, Apotheken inspiziert und mit strengem Oberlehrerblick Dinge beanstanded. Kurzum: Er ist ein Amtsapotheker mit Leib und Seele.
Entgegen seiner Gewohnheit schaltet er völlig ermattet sein TV-Gerät ein, das seit Jahren wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit in der Ecke vor sich hin verstaubte. Zu mehr reicht es heute einfach nicht.
Kaum hat er eingeschaltet, bleibt er ausgerechnet bei RTL hängen. Ein grell blinkendes Apotheken‑A taucht vor seinen Augen auf, dann flimmern maximalgeblurrte Bilder real stattgefundener Beratungsgespräche über die Mattscheibe. Das weckt unweigerlich Revisionserinnerungen der vergangenen Woche: die lückenhafte Temperaturdokumentation in der Schloss-Apotheke Wiblingwerde (angeblich funktionierte der digitale Tracker nicht), die ungenormte dreistufige Treppe hinunter zum Zytolabor in Listerscheid (dafür gibt es ja wohl keine Entschuldigung!) und die zwei fehlenden Ausgangsstoff-Prüfprotokolle der Dobermann-Apotheke in Bedburg-Hau (wie konnte denn das passieren?).
Und dann sieht er es: die Rezeptur im DocMorris-Headquarter. Angeblich sechs Plätze, kaum Substanzen im Vorratsschrank – und wo steht da überhaupt die Salbenrührmaschine? Wie sollen denn da – Müller rechnet: 65.000 Pakete pro Tag, sechs PTA die herstellen, zwei im Sinn – 20 Rezepturen täglich über die Bühne gehen? Und: Das genügt doch niemals bei einem achtstelligen Kundenstamm!
Müllers Gedanken rasen – ein nahtloser Übergang vom Wach- in den Schlafzustand. Plötzlich steht er in ebendieser Rezeptur, inklusive Klemmbrett. Sein prüfender Blick huscht über die Arbeitsflächen, die Gerätschaften. Dann entdeckt er etwas, das seinen Puls weiter in die Höhe schnellen lässt: eine unscheinbare Klappe im Boden des Labors. Müller starrt sie regelrecht an, das Amtsapotheker-Detektivhirn auf höchste Bereitschaftsstufe geschaltet. Er kniet sich hin, öffnet die Klappe und steigt vorsichtig hinab – bereit, ein geheimes Labor, versteckte Maschinen oder Schlimmeres zu entdecken.
Doch er findet am Ende der schier endlosen Wendeltreppe hinab ins Dunkel etwas gänzlich anderes. Es ist kein Labor im klassischen Sinne: Hier gab es keine Gerätschaften, keine Kruken, keine Substanzen. Stattdessen findet sich Müller in einem fensterlosen Raum wieder, in dem PTA in Reihen an Bildschirmen sitzen. Wenige tippen in Chatfenster, die meisten aber beraten per Videochat ihre Kundschaft am anderen Ende des Internets. Dabei halten sie Mini-Kruken in die Kamera, kleine, putzige Fantaschalen oder gar batteriebetriebene Miniatur-Salbenrührgeräte.
Müller kann seinen Augen kaum trauen. Geistesgegenwärtig zückt er sein Klemmbrett und schreibt die astronomische Zahl an Verstößen derart schnell mit, dass es ein Wunder ist, dass sein Vordruck kein Feuer fängt. „Sie finden alles im Rezepturkit, ich erkläre Ihnen nur schon einmal, wie Sie ihre Salbe zu Hause herstellen“, hört der Amtsapotheker eine PTA sagen. PTA? Auf ihrem Kittelschild steht TTA – Teletechnische Assistentin. Müller spürt, wie die Hitze in seinem Gesicht steigt – aber er bekommt vor Entsetzen und Entrüstung keinen Ton heraus.
Er bleibt stehen, starrt auf die Bildschirme, blickt in ratlose Gesichter von Laien, die keine Ahnung haben, wie sie sich die Herstellungsschritte merken oder gar die Miniaturwerke anständig benutzen sollen. Die TTA diskutieren Mengenangaben, Abfüllanleitungen und erklären gebetsmühlenartig die Hygienevorschriften. Alles erscheint dem Amtsapotheker gleichzeitig absurd, grotesk und erschreckend plausibel – ein pharmazeutischer Albtraum, eine Beratungsdystopie, live über Pixel und Tastatur orchestriert. „Ich hab's doch gewusst!“ hört er sich selbst sagen.
Und dabei wacht er auf. Er blinzelt; Müller musste ungelenk auf der Fernbedienung eingeschlafen sein. Mittlerweile ist es früher Morgen, er nassgeschwitzt, die Brille beschlagen. Ach, nein. Das ist das Wetterpanorama (6.03 Uhr, Watzmann, -1 Grad). Die urige Blasmusik dringt noch nicht so recht zu ihm durch – gedanklich ist er immer noch in Heerlen. Dann atmet er tief durch: Zum Glück war alles nur ein Traum. Doch die Bilder, die Klappe, die videochattenden PTA – nein, TTA – und die ratlosen Gesichter der Kundschaft – sie ließen ihn nicht mehr los.
Den RTL-Beitrag – „der große Medikamenten-Preischeck“ – flimmerte tatsächlich in dieser Woche über die Bildschirme. „Wir bieten ganz normal Rezepturen an“, erklärte Redcare-CEO Olaf Heinrich im Interview mit dem Sender.
Darüber hinaus wurde in dieser Woche bekannt, dass Apotheken ab April kommenden Jahres auch Biosimilars austauschen sollen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Regeln dazu beschlossen und in einen neuen § 40c Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) aufgenommen.
Außerdem ist ein Easy-Apotheker aus Freiburg trotz eines Millionenumsatzes insolvent gegangen. Markus Vivell leide unter höheren Ausgaben. Ein Grund für die Insolvenz sind jedoch „Altlasten“.
Ebenfalls in dieser Woche hat Bild.de Apotheken in einem Bericht über Rezeptfälschungen einen leichtfertigen Umgang mit der Prüfung von Verordnungen unterstellt. Tatjana Buck von der Vital-Apotheke in Bad Saulgau wehrte sich vehement dagegen: Rezeptbetrug sei ein massives Problem, aber Apotheken als „zu bequeme Weggucker“ zu bezeichnen, sei „billig und gefährlich“.
In diesem Sinne – schönes zweites Adventswochenende!
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