Es braucht mehr Steuerung im System – da sind sich Vertreter von Ärzten und Politik einig. Doch wie andere nicht-ärztliche Gesundheitsberufe in die Primärversorgung eingebunden werden, bleibt umstritten. „Wir leben in destruktiven Zeiten“, erklärte Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes, auf der diesjährigen Hauptversammlung in Berlin.
Damit sei auch die deutsche Bundesregierung gemeint, die in ihrem Koalitionsvertrag einiges an destruktiven Dingen verankert habe.
Dass die Ministerin nicht mehr von einem Primärarztsystem, sondern von einer Primärversorgungsstruktur spreche, lobte Heinrich. Es brauche eine bessere Steuerung der Patienten, die sich anders darstellen werde als die Versorgung heute.
Er nannte Fallbeispiele, in denen Patienten mittels App mit KI, die auch auf die Elektronische Patientenakte (ePA) zugreifen könne, die Versorgung koordinieren könnten. Bei einer Patientin mit einer chronischen Ohrenentzündung beispielsweise würde diese direkt zum HNO-Arzt verwiesen, der die Koordination übernehme. Ein Patient ohne Vorerkrankungen würde zum Hautarzt gehen, der die weitere Versorgung koordiniere. Die KI könne auch Notfälle einschätzen. Termine könnten direkt über die App vermittelt werden „Deshalb heißt für uns die Zukunft: Digital vor ambulant vor stationär“, erklärte Heinrich.
Bei einer reinen Primärarztversorgung über die Hausärzte werde es zu einem Flaschenhals beim Hausarzt kommen, prophezeite er. Es werde zu wenig Hausärzte geben, um diie Versorgung so zu stemmen. Besser sei das Koordinationsarztmodell, bei dem Hausarzt oder grundversorgender Facharzt die Betreuung, Koordination, Information und Kommunikation übernähmen. Dazu sei auch ergänzendes Praxispersonal erforderlich.
Heinrich forderte ein Einschreibemodell für Patienten. Generell werde in Zukunft eine Eigenbeteiligung nötig sein, auch Sanktionsmöglichkeiten bei Umgehung und „No-Shows“. Ferner sollten Krankenhäuser ohne Integrierte Notfallzentren (INZ) keine Notfallpatienten aufnehmen.
Im Bereich der Digitalisierung müssten in Praxen offene Schnittstellen zu den Praxisverwaltungssystemen geschaffen werden. Eine Entbudgetierung der Leistungen sei nötig. Die Finanzierung für die 116117 müsse ausgebaut werden, ebenso wie die digitale Unterstützung.
Er verwies auf Regionen, in denen bei Fachärzten eine Budgetierung von 70 Prozent herrsche, was man niemandem erklären könne. „Wenn ich 20 Prozent weniger Patienten durch Patientensteuerung einspare und das Geld dort belasse, dann habe ich eine Entbudgetierung, die keinen einzigen Euro mehr kostet“, erklärte er. Im jetzigen System sei diese teurer, aber mit der besseren Patientensteuerung wäre es eine „Entbudgetierung durch die Hintertür“.
Technisch müsse man sich für KI öffnen. Sie könne beispielsweise bei der Ersteinschätzung, Anamnese, Diagnoseunterstützung, aber auch zur Dokumentation, bei Arztbriefen und Ähnlichem unterstützen. „Das ist alles schon da, wir müssen es nur anwenden.“
Heinrich betonte: „Lassen Sie uns Digital neu denken, statt Analoges zu digitalisieren.“ Letzteres sei „die falsche Denke“. Man könne sich gar nicht vorstellen, was alles in einem digitalen Prozess schon ginge. Er forderte die digitale Vernetzung von 112 und 116117 mit Ersteinschätzung mittels einheitlicher Kriterien. Leichtere Fälle könnten über Telefon- und Videosprechstunde behandelt werden. Ebenso sei ein digitaler Informationsaustausch, etwa eine Anzeige von verfügbaren Krankenhausressourcen, notwendig.
Die Patientensteuerung sei ein ganz wichtiger Punkt, um die Qualität zu verbessern, meinte auch Professor Dr. Hans Theiss (CSU). Deutschland habe deutlich mehr Arztbesuche pro Kopf im Vergleich zu anderen Ländern. Mehr als 50 Prozent der Patienten, die die Notfallversorgung im Krankenhaus aufsuchen, gehörten dort nicht hin, würden aber Ressourcen binden.
„Wir geben in Deutschland sehr viel Geld für Gesundheit aus, gehen sehr oft in Arztpraxen und sterben trotzdem früher“, betonte Matthias Mieves (SPD). Man müsse besser koordinieren. An welchen Stellen könne man Aufgaben an Menschen übergeben, die keine Ärzte seien? Wie könne man die Mittel verteilen und steuern, sodass sie nicht den Anreiz setzen, Fälle zu produzieren, die man nicht brauche, fragte Mieves.
Patricia Ley, Vizepräsidentin des Berufsverbandes der Medizinischen Fachangestellten, erklärte, dass die Medizinische Fachangestallte (MFA) in den Praxen eine Steuerungsfunktion und Terminkoordination übernehmen würden.
Heinrich sagte, es gehe der MFA etwas verloren, wenn die Ersteinschätzung wegfalle. Sie werde aber auch etwas gewinnen, wenn die Ressourcen besser genutzt würden und sie sich mehr auf die Eins-zu-eins-Versorgung mit den Patienten konzentrieren könne. Außerdem gäbe es viele Weiterbildungsmöglichkeiten für MFA.
Man kenne seien MFA, man kenne auch die Patienten, und es komme aus einer Hand, so Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. „Die Vorstellung, dass durch Substitution oder Delegation an nicht-ärztliche Gesundheitsorte jenseits von vertragsärztlichen Praxen viel eingespart wird, ist falsch“, erklärte Reinhardt. Damit würde nichts gewonnen.
Dass zum Beispiel die Pflege Unterstützung brauche und diese einen ganz wichtigen Baustein bei der Behandlung von Patienten darstelle, würde niemand in Abrede stellen. „Hier sind aber ganz spezifische Qualitäten gefragt, die diese Berufe können und haben, und die nicht ersetzbar sind“, betonte er.
Die Berufe arbeiteten zusammen, könnten sich aber gegenseitig nicht ersetzen. Die ständige Abarbeitung des ärztlichen Vorbehalts führe an der Stelle überhaupt nicht weiter. „Die Berufe sollten sich mit Selbstbewusstsein auf die Dinge konzentrieren, wo ihre spezifischen Qualitäten und Fähigkeiten liegen und die ihren ganz eigenen Stellenwert haben, ohne jegliche Form von Konkurrenz.“
Professions- und sektorenübergreifend zu guten Lösungen zu kommen, sei nötig. „Wir sehen in vielen anderen Ländern, dass uns das helfen kann, Schweden oder Kanada. Da übernehmen Teams in den Apotheken schon zusätzliche Aufgaben, Pflegekräfte und auch MFA zusätzliche Aufgaben“, erklärt Mieves. Man müsse zukünftig auf alle Felder schauen. „Wir können es uns nicht leisten, Kompetenzen liegen zu lassen.“
Der demografische Wandel werde zuschlagen, bekräftigte auch Theiss. Es würden viele Ärzte aus Altersgründen in Rente gehen und gleichzeitig zu Patienten werden. „Und wir werden da extreme Engpässe haben. Noch verschärfter, als Sie sie heute schon sehen“, erklärt er. „Wir werden da gar nicht umhin kommen, zu delegieren und Kompetenzen zu erweitern.“
Zu den Apothekern erklärte Heinrich, wenn nun Schnelltests und Messungen in der Apotheke gemacht werden sollten, dann müssten die gleichen Kriterien wie bei den Ärzten gelten. „Da möchte ich die wissenschaftlichen Nachweise sehen, dass es für den Einzelnen etwas bringt, dass es etwas für die Gesellschaft bringt.“ Auch die Wirtschaftlichkeit müsse evaluiert werden. Das alles fehle komplett in dem aktuellen Entwurf.
Außerdem berge dieses anlasslose Testen auch die Gefahr, zu falsch positiven oder negativen Ergebnissen zu führen, die dann eine Aufklärung in einer ärztlichen Praxis nach sich ziehen würden. So würde mehr Nachfrage induziert. „Und ich möchte bitte, wenn bei uns noch mehr Patienten auftauchen, dass die dadurch ausgelösten Kosten dann bitte auch refinanziert werden. Das gehört zur Redlichkeit dazu.“
Auch Ley kommentierte, dass es durch Testungen zu einer Mehrbelastung statt einer Entlastung kommen könne. Statt einzeln auf jede Berufsgruppe zu schauen, müsse man Kompetenzen betrachten.
„Die Beiträge müssen stabil bleiben, weil wir bei steigenden Sozialbeiträgen, glaube ich, unser gesamtes Land, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, gegen die Wand fahren“, sagte Theiss. Das bedeute, dass alle Sektoren im Gesundheitswesen sich massiv verändern müssten und auch etwas dazu beitragen müssten.
Es gehe um fünf Bereiche: Das beginne beim Staat. Es könne nicht sein, dass die Bürgergeld-Empfänger von den Beitragszahlern geschultert werden müssten. Der zweite Bereich seien die Kassen: „Meiner Meinung nach gibt es zu viele Kassen“. Auch in der Industrie müsse ein Beitrag geleistet werden. Auch der Patient müsse mehr Eigenverantwortung übernehmen. Und auch bei den Ärzte seien Effizienzreserven zu heben. „Da geht es um die Stabilität unserer Demokratie“, so Theiss.
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