Medikamentensucht

„Mein Dealer war der Apotheker“

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Berlin -

Rund 1,5 Millionen Menschen sind abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Das hat Professor Dr. Gerd Glaeske für die Wochenzeitung „Zeit“ errechnet. Das Problem: Immer häufiger würden kritische Präparate auf Privat- statt Kassenrezept verschrieben. Eine Kontrolle sei so schwierig – Glaeske fordert eine Begrenzung der Packungsgrößen. „Schlaf, Deutschland, schlaf!“ lautet der Titel der am Donnerstag erschienenen Ausgabe der Zeitung.

Vor allem Haus- und nicht Fachärzte verschrieben abhängig machende Schlaf- und Beruhigungsmittel, berichtet die „Zeit“. Das habe die Auswertung von Zahlen ergeben, die das Marktforschungsinstitut Insight Health der Zeitung exklusiv zur Verfügung gestellt habe. Glaeske hatte auf dieser Grundlage errechnet, dass es in Deutschland 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen gebe, die von Schlaf- und Beruhigungsmitteln abhängig seien. Bisher war er von 1,1 bis 1,2 Millionen Betroffenen ausgegangen.

Laut Bericht verkauften deutsche Apotheken im vergangenen Jahr 18,7 Millionen Packungen verschreibungspflichtiger Schlafmedikamente, die bei dauerhafter Einnahme abhängig machten. Die Zahlen zeigten allerdings, dass immer weniger Präparate auf Kassenrezept und immer mehr auf Privatrezept verordnet würden.

Er sei überrascht gewesen, als er in den 1980er-Jahren zum ersten Mal gesehen habe, wie massenhaft die Mittel verschrieben würden und dass keiner darüber rede, sagte Glaeske der Zeitung. „Gegen das Schweigen“ wertete er jetzt die Daten aus; dabei habe er „großzügig“ gerechnet und eine Abhängigkeit erst nach drei Monaten täglicher Einnahme angenommen. Tatsächlich sei die Gefahr schon nach drei bis sechs Wochen groß.

Aufgrund der sinkenden Zahl von Verschreibungen auf Kassenrezept habe man keine Kontrolle mehr über die tatsächliche Abgabe, die Zahl der Privatrezepte steige – unabhängig davon, ob die Patienten privat oder gesetzlich versichert seien. So könnten Ärzte Regresse vermeiden, weil sie zu viel von einem Arzneimittel verschrieben haben, berichtet die „Zeit“. Einen Überblick könne man nur bekommen, wenn die Ärzte ihre Verschreibungen offen legten.

Nutznießer der Medikamentensucht seien vor allem die Pharmakonzerne, berichtet die „Zeit“: Roche sei allein wegen der Benzodiazepine für ein Jahrzehnt der größte Pharmakonzern der Welt gewesen. Glaeske schlägt vor, die Packungen der Beruhigungs- und Schlafmittel zu verkleinern, so wie es etwa bei Ritalin bereits geschehen sei. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) habe aber derzeit keine derartigen Pläne.

Im Gegensatz zu Heroin- oder Kokainabhängigkeit sei die Medikamentenabhängigkeit eine „saubere“ Sucht, heißt es in dem Artikel. Ein ehemaliger Abhängiger erklärte gegenüber der Zeitung: „Ich habe mich die ganze Zeit sauber gefühlt. Mein Dealer war der Apotheker, und mit meinem Stoff habe ich noch eine Packung Taschentücher bekommen.“

Die meisten Abhängigen seien Frauen, schreibt die Zeitung. Das liegt laut Bericht daran, dass Frauen mehr über ihre Ängste sprechen als Männer – diese griffen eher zum Alkohol. Das habe auch mit dem „männlichen Blick auf die Welt“ zu tun, sagt Glaeske. Frauen neigten zu Übertreibung und Hysterie und würden ruhig gestellt. Er könne zahlreiche Fälle nennen, bei denen die Männer das wirksame Arzneimittel bekämen und Frauen etwas zur Beruhigung. Das gehe auch auf Kosten der Prophylaxe, etwa nach einem Herzinfarkt. Frauen bekämen deutliche weniger Blutverdünner und Cholesterinsenker als Männer. Die Unterversorgung sei gefährlich für die Frauen.

Verschrieben würden die Medikamente vor allem von Hausärzten. Aus den Daten gehe hervor, dass 70 Prozent der auf Kassenrezept verordneten Mittel von Allgemeinärzten und Internisten verschrieben wurden. Nur 18,5 Prozent der Mittel seien von einem eigentlich zuständigen Facharzt für Nervenheilkunde verschrieben worden, so die Zeitung.

Auch regionale Unterschiede zeigt die Auswertung: Die meisten Verordnungen habe es im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg gegeben. Am seltensten werden die Medikamente in Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verordnet, berichtet die „Zeit“.

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