Seit Juli setzt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Niedersachsen im Bereitschaftsdienst auf Videosprechstunden. Wer bei der Hotline 116 117 anruft, wird bei akutem Bedarf erst einmal per Telefon oder Videoanruf mit einem Arzt verbunden. Die Praxen sind nicht mehr verpflichtet, am mobilen Bereitschaftsdienst teilzunehmen. Die KV setzt bei der Technik auf die DocMorris-Tochter Teleclinic.
Alle Patientinnen und Patienten in Niedersachsen, die die Telefonnummer 116 117 anrufen, werden zunächst wie bisher einer strukturierten medizinischen Ersteinschätzung (SmED) unterzogen. Auf diese Weise wird festgestellt, ob das Anliegen bis zu den regulären Öffnungszeiten der Praxen warten kann oder ob ein akuter Behandlungsbedarf besteht. Ist letzteres der Fall, wird der Patient im Regelfall zur nächsten Bereitschaftspraxis geschickt; diese sind meist an Krankenhäusern angesiedelt. Ist dem Patienten der Weg dorthin nicht zuzumuten, musste bislang der mobile Bereitschaftsdienst vorbeikommen. Jetzt soll der Patient zunächst per Telefon oder Videokonferenz mit einem Arzt sprechen – ein Rückruf innerhalb von 30 Minuten wird garantiert.
In der Praxis geht es deutlich schneller, im Durchschnitt konnte der Patient seit Einführung des neuen Modells schon nach fünf Minuten mit dem Telearzt sprechen. Und in den allermeisten Fällen lassen sich die Fragen damit bereits klären, wie KV-Vize Thorsten Schmidt erklärt: Seit Beginn der Testphase im Juni sind laut KV insgesamt 38.201 Anrufe bei „KVN.akut“ eingegangen. 30.628 Fälle, also 80 Prozent, konnten demnach ohne Fahrdienstalarmierung abgeschlossen werden. Ursprünglich hatte man kalkuliert, dass nur jeder zweite Anrufer damit versorgen werden könnte.
Im Schwerpunkt geht es bei der Telemedizin um die ärztliche Beratung. Nur in 3918 Fällen wurde laut Schmidt zusätzlich ein E-Rezept ausgestellt und in 388 Fällen eine E-Krankschreibung. Bei 7573 Fällen (20 Prozent) musste dennoch der mobile Bereitschaftsdienst vorbeischauen.
Diese Aufgabe übernehmen aber nicht mehr die Vertragsärztinnen und -ärzte, die bislang verpflichtend dazu eingeteilt wurden. Stattdessen kommt der Fahrdienst der Johanniter-Unfall-Hilfe zum Einsatz. Ziel ist es dabei, dass zunächst eine Gesundheitsfachkraft den Patienten aufsucht und entscheidet, ob ein Arzt oder gar der Rettungsdienst vorbeikommen muss. Bislang kam aber bei drei von vier Fällen ein Arzt zum Einsatz.
Für die Ärztinnen und Ärzte wurde diese Aufgabe gestrichen; bislang waren pro nacht 86 Ärztinnen und Ärzte in 75 Bereitschaftsdienstbereichen im Einsatz. Bei den Johannitern ist eigenes Personal angestellt; während einer Schicht sind 24 Gesundheitsfachkräfte und zwölf Ärztinnen und Ärzte in acht Bereitschaftsdienstbereichen unterwegs.
Die telemedizinische Beratung übernehmen überwiegend niedersächsische Kassenärztinnen und -ärzte direkt zu den Bereitschaftsdienstzeiten. Für sie sind die Videosprechstunden freiwillig; 26 Kolleginnen und Kollegen sind laut Schmidt im Tagesdurchschnitt auf der telemedizinischen Plattform aktiv.
„Mit der Reform haben wir auf diese Entwicklung reagiert und seit Juli klare, technologiegestützte Versorgungsprozesse geschaffen, die Patientinnen und Patienten gezielter und effizienter als bisher versorgen und die niedergelassene Ärzteschaft spürbar entlasten“, sagt Schmidt. „Sie werden nicht mehr zur Teilnahme am fahrenden Bereitschaftsdienst verpflichtet. Ein gutes Argument auch zur Ansiedlung des dringend benötigten ärztlichen Nachwuchses.“
Die Reform sei notwendig gewesen, da die Sicherstellung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes außerhalb der Praxisöffnungszeiten zunehmend herausfordernder geworden sei – insbesondere durch die immer stärker steigende Arbeitsverdichtung und Arbeitsbelastung in den Praxen, die heterogene Struktur und den immer stärker spürbaren Ärztinnen- und Ärztemangel. Jetzt gewährleiste man, dass jede Patientin und jeder Patient im Bereitschaftsdienst schnell einen Erstkontakt zu einer Ärztin oder einem Arzt erhielten – sehr viel schneller als bisher. So würden Mehrfachanrufe bei der 116117 und insbesondere das Ausweichen auf die 112 – den Rettungsdienst – verhindert. „Die Patientenzufriedenheit – die wir abfragen – liegt durchschnittlich bei über vier von fünf Punkten. Also auch die Patientinnen und Patienten zeigen eine hohe Zufriedenheit“, so Schmidt.
Beide Partner, also die Johanniter und Teleclinic, wurden über Ausschreibungen gewonnen. Insbesondere die Zusammenarbeit mit der DocMorris-Tochter wurde vielfach kritisiert. Die Partnerschaft ermögliche es, sowohl die technische Plattform bereitzustellen als auch eine schnelle und qualitativ hochwertige erste Konsultation zu gewährleisten, rechtfertigt die KV die Entscheidung.
„KVN.akut zeigt, wie digitale und telemedizinische Angebote sinnvoll in bestehende Versorgungsstrukturen integriert werden können“, sagt Julian Simon, Geschäftsführer von Teleclinic. Die bisherigen Erfahrungen und Rückmeldungen seien durchweg positiv – von Patienten ebenso wie von Ärzten. „Wir sehen, dass das Projekt funktioniert und die telemedizinische Erstversorgung schnelle Hilfe ermöglicht. Besonders wichtig ist uns, dass jede Ärztin und jeder Arzt in Niedersachsen die Möglichkeit hat, freiwillig und flexibel telemedizinisch zu behandeln und so die Zukunft der ambulanten Akutversorgung mitzugestalten.“
Uwe Beyes, Mitglied im Landesvorstand Niedersachsen/Bremen der Johanniter-Unfall-Hilfe, ergänzt: „Der medizinische Fahrdienst bleibt erhalten. Er wird aber gezielter und ausschließlich auf ärztliche Anordnung durch die Teleärztin oder den Telearzt ausgelöst.“ Von insgesamt 15 regionalen Dienststellen aus rücke der Fahrdienst zu den Hausbesuchen aus. „Durch die Öffnung des Fahrdienstes für speziell geschultes nicht-ärztliches Personal reduzieren wir dabei auch den Druck auf die Ärztinnen und Ärzte. So ist gewährleistet, dass sie sich ausschließlich auf die komplexen Fälle im Fahrdienst konzentrieren können.“
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