Kommentar

E-Rezept: Scheitern in Scheibchen

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Berlin -

Die seit langem angekündigte E-Rezept-Einführung am 1. Juli verdient ihren Namen nicht. Und das ist nicht einmal Polemik, denn zu Beginn des dritten Quartals wird es – anders als zuvor erwartet – keine E-Rezepte geben. Die Gematik und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) werden wieder beschwichtigen, doch es ist offensichtlich, dass es nicht so läuft, wie einst geplant. Dabei wäre das nicht einmal eine Schande – wenn dieser für das Gesundheitswesen so grundlegende Prozess wenigstens transparent gehandhabt würde, kommentiert Tobias Lau.

Laut Gematik läuft alles nach Plan. Nur ändert sich der Plan halt ständig. Je näher der 1. Juli rückte, desto weniger blieb vom lange angekündigten E-Rezept-Start übrig. Aus der bundesweiten Einführung wurde eine Fokusregion mit 120 Apotheken, daraus ein Test mit einer Apotheke, und kurz vor der Angst räumt die Gematik auf Nachfrage ein, dass es zum E-Rezept-Start gar keine E-Rezepte gibt. Aus ihrer Sicht hätten das alle wissen müssen, es sei seit jeher so geplant und alle Gesellschafter voll im Bilde gewesen. Der Beschluss im Gesellschafterrat, vorerst nur in der Fokusregion zu testen, fiel interessanterweise erst, als die Nachricht darüber bereits in der Welt war.

Die Frage ist nur: Wenn es die ganze Zeit so klar gewesen sein soll, warum hat es niemand mitbekommen? Für die Apotheken kamen alle Neuigkeiten zum Schrumpfen des Projekts überraschend – die haben aber seit dem Frühjahr 2020 auch ganz andere Sorgen, könnte man meinen. Hier wäre die Gematik-Gesellschafterin Abda in der Pflicht gewesen. Wieso wurde da nie eindeutig in Richtung kommuniziert, wie es ablaufen soll, wenn es doch so klar war? Noch vielsagender ist allerdings: Redet man mit Verantwortlichen aus den Unternehmen im Orbit der E-Rezept-Einführung, von den großen Softwarehäusern bis hin zu kleinen Firmen, hört man hinter vorgehaltener Hand stets dasselbe: Verwunderung, Frust, Kritik an der Vorgehensweise und der Technik. Dabei müssten doch gerade sie diejenigen sein, die am besten informiert sind und werden, schließlich bauen ihre Geschäftsmodelle zu nicht unerheblichen Teilen auf dem Projektstand auf.

Wenn also alle außer der Gematik es nicht wissen, bei wem liegt dann der Fehler? Es wurde bei einem bedeutenden Projekt mindestens völlig unzureichend kommuniziert und das kann möglicherweise nicht mal nur der Gematik zur Last legen, sondern auch den Vertretern der Leistungserbringer in ihrem Gesellschafterkreis.

Wenn es denn so stimmt, wie von der Gematik behauptet. Denn hinzukommt: Wenn es wirklich schon immer so geplant gewesen ist, dass die technische Infrastruktur Anfang Juli noch so sehr in den Kinderschuhen steckt, dass sie erst einmal grundlegend getestet werden muss, irgendwann im Folgemonat vielleicht mal ein paar echte E-Rezepte eintrudeln und erst im Folgequartal alle knapp 19.000 Apotheken und über 100.000 Arztpraxen in die Lage gebracht werden können, E-Rezepte zu verarbeiten – warum so ein enger Zeitplan? Krankenkassen, Versicherungen und Verbände haben schon vor Jahren begonnen, eigene E-Rezept-Strukturen zu testen. Die berüchtigten 52 Modellprojekte waren fast schon zum geflügelten Wort geworden, ohne dass jemand eine genaue Ahnung hatte, wo die Zahl überhaupt herkam. Nun folgt also ab dem 1. Juli ein 53. Modellprojekt.

Und es ist alles andere als trivial, was bei dem geschieht. Die Gematik hat eine Mammutaufgabe vor sich und es geht nicht darum, ein paarmal durchzutesten, ob es denn generell klappt. Das System muss absolut sicher und fehlerfrei sein. 445 Millionen Rezepte wurden vergangenes Jahr in deutschen Apotheken eingelöst, die Zahl der Konstellationen und möglichen Fehlerquellen ist gigantisch. Warum also keine stufenweise Einführung samt Parallelbetrieb über einen bestimmten Zeitraum? Weil die Ärzte – sogar nachvollziehbarer Weise – kein Interesse daran hätten, elektronische Rezepte auszustellen? Das ließe sich mit Anreizen schaffen, für jedes einzelne Fax kriegen sie schließlich auch Geld. Und wer es dann schleifen lässt und schlecht vorbereitet ist, kann es wenigstens nicht auf die Gematik oder die Politik schieben.

Stattdessen wird das E-Rezept mit Gewalt durchgedrückt – und zwar in einer seltsamen Mischung aus Eile und Verspätung. Bereits bis Ende September 2020 mussten die Apotheken laut Gesetz an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen sein, immerhin war das anders als bei den Ärzten nicht sanktioniert. Dennoch mussten sie sich während der Coronapandemie auch noch um Konnektoren, HBA, SMC-B, Kartenlesegeräte, Technikertermine, Erstattung und allerlei Probleme, die dabei auftraten, kümmern – damit dann sage und schreibe ein Dreivierteljahr später ein erster Techniktest beginnt und das E-Rezept nach einer Eingewöhnungsphase verpflichtend wird, die für die allermeisten Apotheken nur ein paar Wochen beträgt. Die meisten Apotheken werden frühestens ein Jahr nach ihrem TI-Anschluss das erste echte E-Rezept empfangen. Und da ist noch gar nicht gesagt, wie viele sie in dieser Zeit überhaupt zu Gesicht bekommen, denn wie gesagt: Die Bereitschaft der Ärzte ist mangels Anreizen und genuinem Nutzen für ihren Praxisbetrieb äußerst gering.

Kein Apotheker und erst recht kein Arzt wäre auf die Barrikaden gegangen, wenn die Einführung des E-Rezepts um ein Jahr verschoben worden wäre. Im Gegenteil: Es gäbe ja sogar gute Gründe. Wir befinden uns am Ende einer globalen Pandemie, die meisten Leistungserbringer hatten schlicht wichtigere Sorgen. Aber auch die Softwarehäuser waren betroffen, bei vielen Ärzten könnte es beispielsweise daran scheitern, dass die Anbieter von Praxisverwaltungssystemen damit zu kämpfen hatten, die digitalen Impfzertifikate fristgerecht zu integrieren. Für E-Rezept blieben da weder Ressourcen noch Zeit. Und wie hoffnungslos überfordert der DAV mit ebenjenen Impfzertifikaten war, kann jede Apotheke bestätigen, die sich mit dem Portal herumschlagen musste. An alldem ist die Gematik nicht schuld.

Und wahrscheinlich ist sie das auch nicht am E-Rezept-Chaos. Wahrscheinlich ist es schlicht das Timing: Am Ende des dritten Quartals steht eine Bundestagswahl an. Bevor die Pandemie alles überschattete, war die Digitalisierung das große Makrothema von Jens Spahns Amtszeit, geplant als die historische Leistung, die antiquierten Strukturen des deutschen Gesundheitswesens endlich zumindest in die Nähe der Höhe der Zeit zu bringen. Das E-Rezept ist ein zentraler Baustein dieses Plans.

Spahn wiederum ist durch seine Performance in der Pandemie schwer angezählt. Die Blöße, jetzt noch eines seiner zentralen Projekte beerdigen zu müssen, kann und will er sich kurz vor der – nach 16 Jahren Angela Merkel ebenfalls historischen – Wahl wohl nicht geben. Also zieht er durch. Sollte sich nach dem Testlauf im dritten Quartal herausstellen, dass es doch nichts wird mit dem 1. Januar 2022, ist die Wahl bereits gelaufen. Und das E-Rezept zu retten vielleicht schon die Aufgabe eines anderen Gesundheitsministers.

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