Was die Rx-Preisbindung angeht, haben Gesetzgeber und Gerichte das deutsche Apothekensystem ins Chaos geführt. Im Juli hat sich bei zwei Verhandlungen vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe gezeigt: Um das Fiasko aufzulösen, bleiben im Grunde nur zwei Auswege. Ein Kommentar von Patrick Hollstein.
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, heißt es in Artikel 3 Grundgesetz. Diesen Grundsatz hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) vor nunmehr neun Jahren über Bord geworfen, als er die ausländischen Versender von der Rx-Preisbindung freigesprochen hat: Da sie Arzneimittel nur mit Zeitverzug liefern könnten, bräuchten sie einen Ausgleich in Form günstigerer Preise, so die Richter in Luxemburg damals. Ansonsten seien sie vom Markt ausgeschlossen.
Aus welcher Laune heraus seinerzeit diese frappierende Fehleinschätzung entstand, ist nicht bekannt. Gegenstück einer qualitativ hochwertigen Versorgung kann für Unternehmen, die sich zur Umgehung des Fremdbesitzverbots ins niederländische „Exil“ abgesetzt haben, nur die Rabattschlacht sein – das klang nicht nur zynisch, sondern war es auch: Auf nur zwölf Seiten kassierten die Richter das verbriefte Recht der Mitgliedstaaten, über das Niveau, auf dem sie den Gesundheitsschutz organisieren, selbst zu entscheiden.
Umso bemerkenswerter ist, dass es nie einen Aufschrei von Rechtsexperten oder Staatsrechtlern gegeben hat. Warum sollten Gerichte über einen Ausgleich vermeintlicher Wettbewerbsnachteile einzelner Wirtschaftsteilnehmer entscheiden dürfen? Wo fängt man an mit der Extrawurst, wo hört man auf? Und warum sollen laut EU-Recht die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sein, ihre Gesetzgebung vor Gerichten zu rechtfertigen und „harte Fakten“ zu den möglichen Auswirkungen von Verboten zu liefern?
Dass der BGH vor zwei Wochen in dieselbe Kerbe schlug, offenbart das ganze Ausmaß des Fiaskos. Von einem einmaligen Ausrutscher des EuGH kann keine Rede sein. Was die Preisbindung angeht, sieht sich auch das höchste deutsche Gericht über dem Gesetz. Dass die Preisbindung einen Sinn hat und Rabatte auf Rezepte ebenso unsolidarisch wie gesundheitsgefährdend sein können, spielt keine Rolle.
Der Fall zeigt: Die Politik muss die Justiz in die ihr verfassungsmäßig zugewiesenen Schranken verweisen. Denn es geht um weit mehr als um die Rx-Preisbindung. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob die Judikative der Legislative auf der Nase herum tanzen kann. Viel zu lange hat sich der Gesetzgeber hierzulande herausgehalten und es den Gerichten überlassen, für ihn unbequeme Themen aus dem Weg zu räumen. Die Quittung dafür bekommen wir jetzt.
Wie aber kann das im konkreten Fall funktionieren? Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) kündigte beherzte Maßnahmen an, blieb aber die Antwort schuldig, wie der einheitliche Abgabepreis wiederhergestellt werden kann. Denn jede Maßnahme dazu, die man in Berlin verabschieden würde, würde in Luxemburg und Karlsruhe wohl prompt wieder auseinander genommen.
Denn die Argumente sind beschränkt. Beispiel Rx-Versandverbot: Ja, die Mitgliedstaaten müssen den Versandhandel nicht erlauben. Aber dürfen sie ihn deswegen auch nach 20 Jahren wieder verbieten? Harte Fakten, bitte! Beispiel E-Rezept: Hat es als „Game Changer“ den Versendern nicht längst einen direkteren Zugang zum Markt verschafft? Harte Fakten, bitte! Beispiel Zuzahlung: Dient die Eigenbeteiligung nicht eigentlich als Steuerungsinstrument? Harte Fakten, bitte!
Zynischerweise scheren sich die Richter selbst nicht allzu sehr um Fakten. Indem er auf den Arzt als Schlüsselfigur verwies, der einzig und allein über die Verordnung von rezeptpflichtigen Medikamenten entscheide, blendete der EuGH nicht nur die Lebenswirklichkeit mit all den dubiosen Rx-Plattformen aus, sondern auch die Tatsache, dass er ausgerechnet bei Medikamenten mit einem potenziell höheren Risiko weniger strenge Anforderungen als bei OTC-Präparaten stellte. Und der BGH stellte in seiner Begründung nicht nur einen Zusammenhang mit dem Apothekensterben in Abrede, sondern auch noch eine Wiederholungsgefahr – während DocMorris nur eine Stunde nach Verkündung seinen neuen Bonus mit bis zu 15 Euro scharf stellte.
Im Grund bleiben nur zwei Möglichkeiten, um das Thema an den Gerichten vorbei aufzulösen:
Die Rx-Preisbindung wird europaweit einheitlich geregelt und in die Richtlinie für Humanarzneimittel aufgenommen. Hier sind zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher bereits erhebliche Einschränkungen vorgesehen; für eine Erweiterung müsste sich nur eine Mehrheit im EU-Parlament finden lassen.
Die Idee ist auch deswegen gar nicht so abwegig, weil auch zahlreiche andere Länder die Werbung und Rabattmöglichkeiten im Arzneimittelbereich konsequent regeln. In mehreren Fällen wurden entsprechende Vorschriften sogar schon vor dem EuGH bestätigt: Im Fall von Shop Apotheke in Frankreich hatte der EuGH sogar das Verbot von Preisnachlässen bei Arzneimitteln für zulässig erklärt – auch wenn darüber zuletzt vor den Gerichten großzügig hinweggesehen wurde.
Den zweiten Ausweg haben EuGH und BGH im Grunde selbst dargelegt, indem sie zwischen den verschiedenen Rabattmöglichkeiten differenziert haben: Gutscheine für OTC-Präparate können zu einem unsachgemäßen Mehrverbrauch führen und sind daher schon nach EU-Richtlinie unzulässig. Andere Gutscheine und Gewinnspiele sind als Sachzuwendungen zu betrachten und unterliegen daher – anders als echte Barrabatte – der Geringwertigkeitsgrenze nach § 7 Heilmittelwerbegesetz (HWG). Mehr als 1 Euro ist also nicht drin, entschied der BGH zuletzt im Zusammenhang mit Payback.
Bleibt als einzige Option der Sofortrabatt. Und hier gingen die DocMorris-Anwälte direkt auf die Barrikaden: Wie soll man Patienten ködern, die von der Zuzahlung befreit sind?
Die Versender ahnen, dass ihr aktueller Freibrief wohl nicht von Dauer sein wird. Selbst die Kassen haben sich offen zur Preisbindung bekannt – wenngleich es schöner wäre, sie hätten als Partner des Rahmenvertrags auch schon Konsequenzen gezogen. Angst vor Schadenersatz müssten sie – anders als die Apothekerkammer Nordrhein gerade – wohl nicht haben: Im schlimmsten Fall müssten die Geldstrafen zurückgezahlt werden. Andererseits: Auch der Deutsche Apothekerverband (DAV) hat in dieser Sache bislang nicht mehr Mut bewiesen, sich für die Interessen seiner Mitglieder einzusetzen.
So kommt es, dass die CEOs der Versender derzeit in Berlin unterwegs sind, um die Politik von allzu rigiden Maßnahmen abzuhalten. Als wahrscheinlichste Antwort auf die aktuelle Situtation gilt wohl eine Verschärfung der Vorgaben zur Einhaltung der Kühlkette. Was bislang fehlt, ist die Idee für einen ganz großen Wurf.
Eine grundlegende und beherzte Neuregelung allerdings bräuchte es dringend, schon deshalb, weil die Rechtslage so komplex geworden ist, dass im Grunde keiner mehr durchsieht. Schon § 7 HWG ist so kompliziert gestrickt, dass man die Unterscheidung zwischen Barrabatt und Sachzuwendung (inklusive Gutschrift) gar nicht ohne gedankliche Verrenkungen nachvollziehen kann.
Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen Bonus auf der einen Seite und der Werbung dafür auf der anderen, wie ihn die Gerichte zuletzt durchdekliniert haben. Jüngster Coup ist die Differenzierung zwischen Flyer- und Online-Werbung, wie sie DocMorris gerade noch einmal ins Spiel bringen will: Laut E-Commerce-Richtlinie sind nach Ansicht des Versenders viel mehr Dinge erlaubt als bislang.
Statt weiter in juristischen Winkeln zu streiten, wäre es allerhöchste Zeit, den eigentlichen Zweck, nämlich den Schutz der Patientinnen und Patienten, endlich anzuerkennen. Kranken Menschen soll nicht zugemutet werden, auf der Suche nach dem besten Schnäppchen erst noch die Apotheken im Umkreis abzuklappern. Und Apotheken sollten sich einen Wettbewerb um die beste Qualität liefern – und keine Preisschlachten.