Das Tourette-Syndrom zählt zu den komplexesten neurologischen Bewegungsstörungen. Während Verhaltenstherapie und Medikamente die Basis der Behandlung bilden, sprechen viele Betroffene nur unzureichend darauf an. Neue Studien zeigen: Medizinisches Cannabis beim Tourette-Syndrom könnte helfen – doch die Datenlage bleibt dünn.
Das Tourette-Syndrom ist eine neurologische Erkrankung, gekennzeichnet durch wiederkehrende, unwillkürliche Bewegungen und Lautäußerungen – sogenannte Tics. Ursache ist eine Fehlregulation der Nervenbahnen zwischen Großhirn und Basalganglien, die Bewegungen steuern.
Vor allem der Botenstoff Dopamin spielt eine zentrale Rolle: Ein Übermaß an dopaminerger Aktivität verringert die Hemmung unwillkürlicher Impulse. Die Erkrankung beginnt meist im Kindesalter; Stress, Aufregung oder Müdigkeit können Tics verstärken.
Derzeit wird Tourette vorrangig verhaltenstherapeutisch behandelt. Bewährt hat sich das Habit-Reversal-Training, das hilft, Tics frühzeitig zu erkennen und zu unterdrücken. Reicht das nicht aus, können Medikamente eingesetzt werden, die die Dopaminaktivität senken. In schweren Fällen kommt eine tiefe Hirnstimulation infrage.
Da viele Betroffene auf diese Therapien nur begrenzt ansprechen oder sie nicht gut vertragen, rücken alternative Ansätze in den Fokus. Forschende prüfen daher, ob medizinisches Cannabis beim Tourette-Syndrom therapeutisch wirksam sein könnte. Der Grund: Cannabinoide greifen an mehreren Schaltstellen des Nervensystems an.
Über das körpereigene Endocannabinoid-System beeinflussen sie die Kommunikation zwischen Nervenzellen und modulieren die Dopamin- und Glutamat-Systeme, die an der Entstehung von Tics beteiligt sind. Dadurch können überaktive neuronale Kreisläufe gedämpft und unwillkürliche Bewegungen sowie Lautäußerungen abgeschwächt werden.
Die wissenschaftliche Untersuchung von Cannabis beim Tourette-Syndrom begann Anfang der 2000er-Jahre mit kleineren klinischen Studien und Fallberichten. Seit Mitte der 2010er-Jahre richtet sich der Fokus zunehmend auf die therapeutische Nutzung cannabinoidhaltiger Medikamente.
Wichtige Impulse kamen 2022 und 2023 durch wie Studien „Canna-tics: efficacy and safety of oral treatment with nabiximols in adults with chronic tic disorders“, die die Datenlage erweiterten um kontrollierte Untersuchungen mit größeren Patientengruppen lieferten. Zwar zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zum Placebo, jedoch Hinweise auf Verbesserungen bei Tic-Schwere und Lebensqualität.
Seit 2024 liegen neue klinische Daten vor, die erstmals auch Jugendliche einbeziehen. Die Studie „A pilot randomized placebo-controlled crossover trial of medicinal cannabis in adolescents with Tourette syndrome“ untersuchte zehn Jugendliche, die ein THC:CBD-Öl im Verhältnis 10:15 oder Placebo erhielten.
Beobachtet wurden eine Abnahme der Tic-Schwere und eine Verbesserung der Lebensqualität, allerdings bei kleiner Stichprobe und kurzer Laufzeit. Eine ergänzende offene Studie derselben Arbeitsgruppe mit dem Titel „Medicinal cannabis for tics in adolescents with Tourette syndrome“ bestätigte die gute Verträglichkeit und ähnliche Trends allerdings.
Mehrere systematische Übersichtsarbeiten aus den Jahren 2024 und 2025 bauen auf diesen Studien auf. Die Analyse „Efficacy of cannabis-based medicine in the treatment of Tourette syndrome: a systematic review and meta-analysis“ beschreibt eine mögliche Verringerung der Tic-Häufigkeit und -Schwere, weist jedoch auf begrenzte Evidenz aufgrund kleiner Stichproben und kurzer Beobachtungszeiträume hin.
Weitere Studien zeigten ähnliche Ergebnisse: Auch sie untermauerten Hinweise auf positive Effekte, betonen aber die methodische Heterogenität und die bislang fehlende Grundlage für eine gesicherte Wirksamkeit.
In Deutschland wird medizinisches Cannabis beim Tourette-Syndrom derzeit nicht als empfohlene Standardtherapie geführt. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) wird der Einsatz cannabinoidhaltiger Präparate in den Leitlinien aufgrund der unzureichenden Studienlage nicht empfohlen; er kann lediglich in Einzelfällen erwogen werden, wenn andere Therapien nicht ausreichend wirksam sind.
In ihrer Stellungnahme vom November 2022 betonte die Bundesärztekammer (BÄK): „Der Nutzen des therapeutischen Einsatzes von Cannabisblüten ist nicht durch wissenschaftliche Evidenz belegt.“ Sie weist darauf hin, „dass die Studienlage zur Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln weiterhin unzureichend ist.“
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt in seiner Richtlinie nach § 31 Absatz 6 SGB V fest: „Eine Verordnung von Cannabisarzneimitteln kommt nur in begründeten Ausnahmefällen in Betracht, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nicht angewendet werden kann.“
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