Während das Honorar der Apotheken stagniert und immer mehr Inhaberinnen und Inhaber keinen anderen Ausweg sehen, als ihren Betrieb aufzugeben, gönnt sich die Standesvertretung Jahr für Jahr mehr Geld. Nicht nur die Abda, sondern auch Kammern und Verbände haben ihre Haushalte immer weiter aufgebläht. Doch jetzt hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf (VG) entschieden, dass das nicht endlos weitergehen kann. Die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) muss laut dem bereits rechtskräftigen Urteil ihre Rücklagen abschmelzen und den Mitgliedern einen Teil ihrer Beiträge zurückzahlen.
Ein Apotheker aus Nordrhein-Westfalen (NRW) hatte gegen die Festsetzung der Beiträge seit 2021 geklagt, weil er jährlich einen mittleren fünfstelligen Betrag an Kammerbeitrag zahlen muss. Er ist der Ansicht, dass der Umsatz keine geeignete Grundlage darstellt, da Spezialversorger wie er eine deutlich niedrigere Marge als der Durchschnitt hätten. Die Streichung der Beitragsbemessungsgrenze von ehemals 12 Millionen Euro zum 1. Januar 2021 habe ihn und rund 20 weitere Kolleginnen und Kollegen im Kammerbezirk massiv belastet. Die Beitragserhebung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Äquivalenzprinzip: Im Beitragsrecht sei eine Umverteilung zwischen großen und kleinen Apotheken nicht vorgesehen.
Vor allem aber gebe es überhaupt keinen Anlass, solche exorbitanten Beiträge zu erheben. Nach § 6 Heilberufegesetz NRW dürften die Kammern nämlich nur Beiträge erheben, die „zur Erfüllung ihrer Aufgaben“ notwendig seien. Die Apothekerkammer sitze auf Millionenrücklagen, die zuvorderst zur Deckung des Haushalts herangezogen werden müssten. Diese seien nicht nur dem Umfang nach nicht zu rechtfertigen, ihr Zweck sei auch vollkommen unklar. Daher müssten sie abgebaut werden. Denn Kammern sei es grundsätzlich nicht erlaubt, ein Vermögen aufzubauen.
Die Kammer hielt dagegen: Bei der Erhebung der Beiträge sei ihr ein weit reichender Spielraum einzuräumen. Auch andere Kammern legten bei der Beitragserhebung den Umsatz zugrunde; bei der Streichung des Deckels sei man dem Nachbarbezirk Westfalen-Lippe gefolgt. Es gebe bislang auch keine gerichtlichen Entscheidungen, die die Einbeziehung besonders hoher Umsätze etwa aus Spezialbereichen in Frage gestellt hätten.
Ihre Beitragsautonomie erlaube es ihr, Typisierungen und Pauschalierungen vorzunehmen, die nicht jedem Einzelfall gerecht würden. Für 98 Prozent sei der umsatzbezogene Beitragsmaßstab sachgerecht. Wenn ein Apotheker sich für eine anderes Geschäftsmodell entscheide und „die Typisierung verlasse“, trage er selbst die Verantwortung dafür, dass er den Beitrag auch auf margenschwächere Umsätze zu zahlen habe.
Was die Rücklagen angehe, verfolge man das Ziel, den Haushalt vorausschauend zu planen. Da man nur in sehr restriktivem Umfang auf Kredite zurückgreifen könne, habe die Haushaltsdeckung einen besonders hohen Stellenwert. Zwar sei das Beitragsaufkommen zuletzt „unerwartet“ gestiegen. Das sei aber nicht vorhersehbar gewesen. Ohnehin sei in der Regel nicht abschätzbar, wie sich die Umsätze und die Zahl der Apotheken entwickeln werde. Im Übrigen habe man den Hebesatz zuletzt abgesenkt.
Das Verwaltungsgericht ließ sich davon nicht beeindrucken. Rücklagen müssten immer der Höhe nach angemessen („Schätzgenauigkeit“) und durch einen sachlichen Zweck zu rechtfertigen sein; anderenfalls sei von einer unzulässigen Vermögensbildung auszugehen.
Hieraus folgt nicht nur, dass die Kammer eine überhöhte Rücklage nicht bilden darf, sondern auch, dass sie eine überhöhte Rücklage baldmöglichst auf ein zulässiges Maß zurückführen muss.
Ein Haushaltsplan könne entsprechend nicht nur dann rechtswidrig sein, wenn er eine überhöhte Rücklagenbildung vorsehe, sondern auch dann, wenn er eine überhöhte Rücklage beibehalte.
Laut § 2 Haushalts- und Kassenordnung der Kammer ist eine Mindestrücklage vorgesehen, die den Bedarf an Betriebsmitteln für sechs Monate deckt. Das HeilBerG erlaube der Kammer nicht, eine Rücklage vorzuschreiben, die pauschal 50 Prozent des Jahreshaushaltes betrage, wenn ein konkreter Bedarf dafür gar nicht feststellbar sei. Vielmehr müssten alle Kammermitglieder „nachvollziehbar und in transparenter Weise“ darüber informiert werden, welche finanziellen Risiken für das kommende Haushaltsjahr gesehen werden und für welche die Rücklagen als Finanzierungspolster dienen sollen.
Ohne diese Kenntnis können die Mitglieder der Kammerversammlung nicht schätzgenau beurteilen, welche Beitragsmittel der Kammerzugehörigen sie noch für erforderlich halten, um die Aufgabenerledigung zu finanzieren.
Von 2021 bis 2024 habe die allgemeine Rücklage durchweg bei 3 Millionen Euro gelegen – ohne dass erkennbar sei, dass sich die Kammerversammlung damit befasst habe. Vielmehr sei eine pauschale Fortschreibung erfolgt, die keinen Bezug zu einem tatsächlich bestehenden Liquiditätsrisiko gehabt habe. „Eine Kalkulation der allgemeinen Rücklage hat nicht stattgefunden, wäre aber geboten gewesen“, so das Gericht.
Auch der angebliche Zweck, die Zeit zwischen den Zahlungseingängen zu überbrücken, ist laut Gericht nicht nachzuvollziehen. Selbst wenn die Beiträge erst mit Verzug eingingen, können die Kammer das ganze Jahr über mit Zuflüssen rechnen. Denn der Beitrag werde hier quartalsweise erhoben; das Bedürfnis an einer Liquiditätsrücklage sei also per se geringer, „weil es Zeiten ohne Mittelzufluss regelmäßig nicht gibt“. Laut Gericht wurde auch gar nicht nachgewiesen, dass tatsächlich jemals auf die Rücklage zurückgegriffen werden musste.
Auch die sogenannte Ausgleichsrücklage zur Kompensation drohender Einnahmeausfälle oder Kostensteigerungen ist laut Urteil nicht zu rechtfertigen. 2021 hatte sie bei knapp 1,5 Millionen Euro gelegen, danach zwei Jahre lang bei rund 2,5 Millionen Euro und 2024 schließlich bei 2,9 Millionen Euro.
Weder seien konkrete Risiken bei den Ausgaben dargelegt worden, noch habe es Hinweise auf Zahlungsausfälle bei Apotheken gegeben oder einen Vortrag dazu, dass es in der Vergangenheit Verluste gegeben habe, „die sich annähernd auf dem Niveau von einem Viertel der Beitragskalkulation bewegt haben“.
Die Rücklage ist damit überhöht, da ihre Kalkulation nicht nachvollziehbar ist.
Nicht nachvollziehbar sei die Argumentation der Kammer, man habe nicht wissen können, wie sich die Abschaffung der Deckelung auswirke. Wenn die alte Haushaltsordnung, wie behauptet, zu einem „strukturellen Haushaltsdefizit“ geführt habe, sei man schließlich selbst von Mehr- und nicht von Mindereinnahmen ausgegangen. Und der Verweis auf Corona gehe vollkommen fehl, weil als Grundlage für die Beiträge die Umsätze von 2019 gedient hätten, als Corona noch gar keine Rolle gespielt habe.
Laut Gericht ergibt sich für die Rücklagen in Summe damit folgendes Bild:
Laut Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerfG) in der Vergangenheit Ausgleichsrücklagen in Höhe von 15 Prozent der geplanten Ausgaben für zulässig und 40 Prozent für überhöht erklärt. In anderen Fällen hätten Vorinstanzen teilweise 30 Prozent noch für angemessen betrachtet.
Das Verhältnis liege bei der Apothekerkammer Nordrhein deutlich darüber. „Eine nachvollziehbare und stichhaltige Begründung für ein solches Sicherungsbedürfnis hat sie nicht geliefert. Es ist auch sonst nicht erkennbar.“ Laut Urteil gibt es ein „Missverhältnis zwischen den Rücklagen [der Kammer] und dem von ihr dargelegten Bedürfnis nach einer finanziellen Absicherung“.
Angesichts der Jahr für Jahr gestiegenen Apothekenumsätze seien auch die Beitragseinnahmen nicht nur gestiegen, sondern hätten auch durchweg oberhalb der Prognose gelegen. Aus welchen Gründen die Kammer den Beitragszuwachs zum Anlass genommen habe, ihre Absicherung für eintretende Verluste zu erhöhen und nicht abzusenken, sei nicht nachvollziehbar. Dies gelte umso mehr, als es dazu in der Kammerversammlung laut Protokoll sogar einen Antrag gegeben habe, der aber abgelehnt worden sei.
Zweifel hat das Gericht auch an den zweckgebundene Rücklagen der Kammer in Höhe von weiteren 2,9 Millionen Euro. „Zweifel wirft insoweit der Umstand auf, dass die zweckgebundenen Rücklagen in den Jahren 2021 bis 2024 weitestgehend unverändert geblieben sind und sich die Frage stellen könnte, inwieweit die durch Rücklagen abgesicherten Zwecke tatsächlich bestanden haben. Eine Aufklärung der maßgeblichen Tatsachen konnte unterbleiben, weil sie nicht entscheidungserheblich sind.“
Auch das Argument der Kammer, ihr Risikoprofil sei „wesentlich heikler“ als das der Industrie- und Handelskammer, da man auch die rechtliche Gesamtverantwortung für das Versorgunswerk trage, räumte das Verwaltungsgericht vom Tisch: Laut HeilBerG sei eine Haftung der Kammer für Verbindlichkeiten der Versorgungseinrichtung ausdrücklich ausgeschlossen; den Protokollen der Kammerversammlung sei auch gar nicht zu entnehmen, dass die finanzielle Lage des Versorgungswerks bei der Rücklagenbildung irgendeine Relevanz gehabt habe. Es seien auch gar keine Finanzdefizite für die fraglichen Jahre vorgetragen worden.
Laut Urteil ist die den Haushaltsplänen zugrundeliegende Ermittlung des Beitragsbedarfes damit nicht haltbar. „Infolgedessen sind die angefochtenen Beitragsbescheide dieser Jahre vollumfänglich und nicht nur anteilig aufzuheben.“ Eine anteilige Korrektur, wie von der Kammer gefordert, komme nicht in Betracht, da es nicht Aufgabe des Gerichts sei zu entscheiden, welches Maß an Rücklagen den Anforderungen des staatlichen Haushaltsrechts noch genügt hätte. „Es bedeutete einen Eingriff in die Selbstverwaltung und Autonomie der Beklagten, wollte das Gericht die Rücklagen selbst beziffern.“
Nicht entscheiden wollte das Gericht auch zu der Frage, ob die Beschlüsse über Haushalt und Beitrag wie gefordert „gleichzeitig“ erfolgt sind und ob die doppelte Bemessung von Umsätzen in Fällen, in denen er als Lohnhersteller für andere Apotheken tätig werde, rechtmäßig sei. Vor allem aber enthielt sich das Gericht zu der entscheidenden Frage, ob „die Bemessung der Beiträge in zulässiger Weise an die Umsätze der Apotheken anknüpfen darf und nicht deren Erträge zugrunde legen müsste“. Denn der Apotheker habe seine eigene Betroffenheit nicht hinreichend belegt, indem er seine Erträge vorgelegt habe. „Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, ob der Kläger tatsächlich geringere Gewinne erzielt als die statistische Durchschnittsapotheke.“
Das Urteil enthält in diesem Zusammenhang nur die Bemerkung, dass sich die Kammer auf einige gerichtliche Entscheidungen berufen konnte, die ein Anknüpfen des Beitrags an den Umsatz für rechtlich zulässig gehalten haben. Eine davon abweichende Rechtsprechung habe der Apotheker nicht benannt.
In seinem eigentlichen Anliegen hat der Prozess den betroffenen Apotheker also nicht weitergebracht. Immerhin konnte er aber erreichen, dass das Thema jetzt öffentlich neu aufgerollt wird – und zwar nicht nur in Nordrhein, sondern womöglich auch bei anderen Kammern und Standesorganisationen, die wohl allesamt auf hohen Rücklagen sitzen. Dass die Pharmazeutische Zeitung (PZ) als Standesblatt direkt eine entsprechende Verteidigungshaltung eingenommen hat, spricht für ihn Bände.
Dass die Nerven blank liegen, zeigt aus seiner Sicht auch der aggressive und diffamierende Tonfall, mit dem der Anwalt der Kammer gegen ihn vorgegangen ist: So sei in den Schriftsätzen von „Hochpreiser-Lobbyisten“ die Rede gewesen; außerdem sei er als Kammermitglied bizarrerweise aufgefordert worden eine Erklärung abzugeben, ob er zu jenen Zyto-Apothekern gehöre, die in der Presse regelmäßig für ihre dubiosen Geschäfte öffentlich an den Pranger gestellt würden.
Für die Kammer selbst kommt das Urteil vermutlich extrem ungelegen. Mit knapp 12.000 Mitgliedern gehört Nordrhein nicht nur zu den größten Kammern im Land, sie stellt mit ihrem Präsidenten Dr. Armin Hoffmann auch noch den Spitzenfunktionär bei der Bundesapothekerkammer (BAK) und ist damit besonders exponiert. Vor allem aber könnte sie bald schon tatsächlich erstmals auf die Rücklagen angewiesen sein: Ende Juli entscheidet der Bundesgerichtshof (BGH) über eine Schadenersatzforderung von DocMorris in Millionenhöhe.