Vorhang auf für ein letztes Gefecht zwischen deutscher Gründlichkeit und europäischem Marktliberalismus: Während der Bundesgerichtshof über das Ende der Preisbindung für Versender verhandelt, zieht ein unbeirrbarer Professor in die Schlacht – scheinbar aus der Zeit gefallen, aber bereit, den modernen Kräften mit den Mitteln der alten Schule Paroli zu bieten.
Schiefe Brille, zerzaustes Haar, verblichenes Tweed-Jacket: Professor Dr. Giesbert Neumann, Experte für angewandte Algebra, sitzt mit seiner abgewetzten Aktentasche auf dem Schoß vor dem Gerichtssaal und wippt nervös mit den Füßen. Zahlen liebt er wie andere ihre Modelleisenbahn – detailversessen, ohne Ironie. Er ist kein Digital-Professor, sondern ein Analog-Sachverständiger auf Mission. Vor dem Bundesgerichtshof will er retten, was für ihn das Rückgrat der Arzneimittelversorgung ist – die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente. Ein letztes Gefecht gegen Rabattlogik, Versender und europarechtliche Schlupflöcher. Dann der Ruf: „Herr Professor Neumann, bitte!“
Sofort ist Neumann im Tunnel: Er erhebt sich, betritt den Gerichtssaal und stellt sich an Flipchart und Mikrofon – zwei hochmoderne Requisiten, die neben ihm wirken wie hippe Gadgets auf einem Flohmarkt für Antiquitäten. Die Technik glänzt, doch Neumann strahlt Beharrlichkeit aus, denkt in Dezimalstellen, argumentiert in Fußnoten.
Das Mikrofon knackt und rauscht, er räuspert sich und beginnt zu sprechen – aber es ist nur ein leises Brummen aus den Lautsprechern zu hören, dann einige Wortfetzen, schließlich Stille. Köpfe drehen sich, Blicke wandern, man schaut auf die Uhr. Doch dann manövriert Neumann einen dicken Stapel Papier aus seiner Aktentasche auf den Tisch. Hunderte Seiten, gebündelt, mit Markierungen und Grafiken.
Das Mikrofon scheint sich plötzlich, beeindruckt von so viel Gewicht und Autorität, neu zu kalibrieren. Neumanns Stimme schneidet nun glasklar durch den Saal, während sich vor ihm das Fundament seiner Argumentation ausbreitet. Er blickt kurz in die Runde, rückt seine Brille zurecht – und erklärt mit ruhiger Entschlossenheit: „Das gehen wir jetzt gemeinsam durch. Seite 1: Wenn 100 Euro Rezeptwert künftig 8 Euro Bonus ermöglichen – multipliziert mit Millionen Packungen im Jahr – reden wir über nichts Geringeres als einen Systembruch.“
Doch das ist nicht alles: Mit der Gelassenheit eines BAföG-Sachbearbeiters vor Semesterstart greift Neumann erneut in seine Aktentasche und zieht ein ehrwürdiges Relikt hervor: seinen Abakus. Für ihn ist dieses Gerät sein persönliches Exkalibur – das Schwert, mit dem er die Schlacht um die Wahrheit schlagen wird. In der linken Hand hält er das Papier, sein undurchdringliches Schild, das jede Attacke abwehrt und die Angriffe der Skeptiker abprallen lässt. Klick für Klick, Strich für Strich, schlägt er mit dem Abakus präzise und unnachgiebig zu, während das Papier seine Verteidigung stärkt. Hier wird nicht nur gerechnet, hier wird mit Wucht und Würde Geschichte geschrieben.
Die Minuten ziehen sich quälend, doch nicht für Neumann: Er ist in seinem Element, genau dafür hat er monatelang gearbeitet. Stoisch erklärt und rechnet er mit der Akribie eines Uhrmachers, so, als hinge das Schicksal der Welt an jeder einzelnen Zahl – was für einige Anwesende gar nicht so weit hergeholt scheint. Der Tag zieht sich endlos hin. Nach Stunden ist er erst auf Seite 10. Allen wird klar: Der Kampf hat gerade erst begonnen.
Tatsächlich bestätigte der BGH, dass die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel ausländische Versender nicht bindet. Oder nicht gebunden hat. Wobei er offen ließ, ob sie auch heute noch binden würde. Und so wechseln die Gefühle zwischen betonter Gleichgültigkeit („Nichts passiert“) und dem dringenden Ruf nach politischer Unterstützung.
Fakt ist: Die Klage des Bayerischen Apothekerverbands gegen DocMorris wurde mangels belastbarer Nachweise zur Versorgungssicherung abgewiesen. Und die Apothekerkammer Nordrhein könnte schon in zwei Wochen die bitteren Folgen der Entscheidung zu spüren bekommen. Dann nämlich geht es um Schadenersatz in Millionenhöhe, den DocMorris fordert.
Paradoxerweise verteidigte der BGH direkt nach dem Urteil in einem anderen Verfahren zu Payback die Bagatellgrenze: Der Wert sei so niedrig, dass er keinen Einfluss auf die Kaufentscheidung habe, sagte der Vorsitzende Richter bei der Verkündung. Es sei der „bloße Ausdruck der allgemeinen Kundenzufriedenheit“. Wie das wohl zu den neuen DocMorris-Boni von bis zu 15 Euro passt?
Vielleicht wollte der BGH die Apotheken aber auch nur davor bewahren, sich in Luxemburg erneut eine blutige Nase zu holen. Laut den Richtern fehlten „harten Fakten“ – also jenen ausgefuchsten Berechnungen, die unser Sachverständiger in unserer kleinen Anekdote herzuleiten wusste.
Wobei Wirtschaftswissenschaftler der Justus-Liebig-Universität Gießen bereits im Frühjahr tatsächlich konkretere Zahlen vorgelegt hatten. Die Forscher hatten in Zusammenarbeit mit der Universität Marburg anhand der Abverkaufsdaten von 5000 Apotheken untersucht, wie sich die Marktanteile als Folge von Rx-Boni verschieben. Und siehe da: Im Median konnten demnach 3000 Euro aus dem Versandhandel zurückgeholt werden. Leider fanden diese Erkenntnisse keinen Eingang mehr in das BGH-Verfahren.
Marcus Berz, Geschäftsführer des Blisterzentrums Blister Care, wies Günther Jauch diese Woche in einem offenen Brief darauf hin, dass die 10-Euro-Gutscheine für E-Rezepte rechtswidrig sind. Er forderte ihn auf, die Zusammenarbeit mit Shop Apotheke zu beenden, um seinen Ruf zu schützen und die lokale Apothekenversorgung zu stärken.
Darüber hinaus kritisierte Apothekerin Carmen Schneider die Kündigung des IKK-Hilfsmittelvertrags und die Aufnahme von DocMorris als Vertragspartner. Sie bemängelt fehlende persönliche Beratung durch Versender und Sanitätshäuser und sieht die hohe Dokumentationspflicht für Apotheken als Problem.
Daniel Reuschel verlor 2021 durch das Ahrtal-Hochwasser seine Apotheken und stand mit 1,5 Millionen Euro im Minus. Nach langen Versicherungsverhandlungen übernahm er 2025 vier Apotheken in Fulda, baut seinen Betrieb aus und sucht zusätzliches Personal.
In diesem Sinne – schönes Wochenende!
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