Europas Gesundheitssysteme stehen unter Druck, das wurde bei der Konferenz „Health4EU – Zukunftsdialog Europäische Gesundheit“ in Berlin deutlich. Expert:innen und Entscheider:innen diskutierten über Versorgungssicherheit, Forschung und die Rolle Europas im globalen Wettbewerb – und forderten klare Impulse statt kleinteiliger Debatten.
„Gesundheit hat ihren Preis“, betonte Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland, zu Beginn der Veranstaltung. Um die Lieferengpässe in den Griff zu bekommen, brauche es auch mehr Mittel und bessere Rahmenbedingungen.
2025 werde das Jahr der größten Krise der internationalen Gesundheit, warnte Dr. Catharina Boehme, stellvertretende Generaldirektorin für Außenbeziehungen und Governance bei der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Finanzierungskrise, ausgelöst durch den Rückzug der USA, habe bereits gravierende Folgen: In vielen Ländern verschlechtere sich der Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten, Programme müssten aufgrund fehlender Mittel eingestellt werden – auch in europäischen Staaten.
Derzeit bleibe oft keine andere Möglichkeit als Personal abzubauen und Tätigkeiten einzuschränken. Um weiterarbeiten zu können, seien Partnerschaften und starke Netzwerke entscheidend. Gerade jetzt sei europäische Führungsstärke gefragter denn je.
Ab Sommer startet das neue Forschungsdatenzentrum, erklärte Professor Dr. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Es werde schrittweise ausgebaut und verknüpfe Versichertendaten mit Informationen aus der elektronischen Patientenakte (ePA) sowie Krebsregistern. Bereits jetzt laufe ein Pilotprojekt zur Anbindung an den Europäischen Gesundheitsdatenraum. „Wir müssen von Anfang an europäisch denken“, betonte er.
Schon während der Pandemie habe sich gezeigt, wie essenziell ein gutes Management von Lieferengpässen sei. „Wir haben es mit einer nationalen, europäischen und globalen Herausforderung zu tun“, betonte Broich. Aktuell gebe es über 500 Lieferengpässe – allerdings sei nicht jeder automatisch ein Versorgungsengpass.
Die Ursachen seien vielfältig: Monopolisierung der Produktion in Ländern wie Indien und China sowie eine teils überzogene Preisregulierung bei Generika, die nun hinterfragt werden müsse. „Hier muss dringend nachgesteuert werden“, forderte Broich.
Ein Ziel sei es, auf Basis des neuen Datenpools ein KI-gestütztes Frühwarnsystem zu entwickeln. Frühindikatoren sollen helfen, Engpässe rechtzeitig zu erkennen. Auch den Critical Medical Act hob er hervor. „All das geschieht datenbasiert“, so Broich. Man arbeite mit Hochdruck daran, Engpässe zu vermeiden oder so zu managen, dass Patientinnen und Patienten nicht zu Schaden kommen – auch wenn es in Apotheken vor Ort noch häufig zu Frust führe.
Er freue sich, dass das BfArM mit dem Forschungsdatenzentrum nun mitten in der Gesundheitsversorgung angekommen sei. Das europäische Netzwerk habe sich in der Pandemie bewährt – und funktioniere auch heute. „Es ist wichtiger denn je, die Chancen zu nutzen, die sich aus der veränderten Lage ergeben haben.“ Viele seiner Ansprechpartner bei der US-Behörde FDA seien inzwischen nicht mehr im Amt – neue Beziehungen müssten aufgebaut werden. Von der neuen Bundesregierung erwartet Broich vor allem eines: Kontinuität.
Dr. Michael Berntgen (EMA), Ilka Wölfle (Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung) und Dr. Stefan Koch (Klosterfrau) diskutierten auf der „Health4EU“-Konferenz über die zentralen Stellschrauben für ein zukunftsfestes Gesundheitssystem in Europa.
Wölfle forderte klare Prioritäten auf der Ausgabenseite: „Anpassungen bei den Beiträgen reichen nicht – auch bei den Kosten muss sich etwas bewegen.“ Zwar befürworte man die Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa, die Finanzierung müsse dabei aber gesichert bleiben. Neue Medikamente sollten nur dann auf den Markt kommen, wenn sie echten Zusatznutzen für Patient:innen brächten – und europaweit verfügbar seien. Auch bei der Mehrwertsteuer sieht Wölfle Handlungsbedarf: „Warum zahlen wir 19 Prozent auf Arzneimittel“, fragte sie. Es sei absurd, man zahle gleichzeitig nur 7 Prozent auf Zucker – auf Diabetesmedikamente dann aber 19 Prozent.
„Wir leisten uns das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt – und haben trotzdem Lieferengpässe“, kritisierte Koch scharf. Rund 80 Prozent aller Antibiotika stammten inzwischen aus China. „Wir müssen alles dafür tun, um wieder unabhängiger zu werden“, betonte Koch. Europa müsse zwar nicht zur völligen Insel werden, er wolle Globalisierung nicht abschaffen, aber mehr eigene Produktion sei essenziell. Ein weiterer Kritikpunkt: die Bürokratie. „Wir stellen ständig neue Leute ein – nicht für Innovation, sondern fürs Abheften.“
„Innovation zählt nur, wenn sie bei den Patient:innen ankommt“, betonte Berntgen. Er unterstütze eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung in den Gesundheitssystemen und sehe die EMA dabei als Partner. Die laufende Revision der Pharmagesetzgebung sei eine Chance, um Verfahren zu verschlanken und unnötige Komplexität abzubauen.
Wölfle ergänzte, dass Versorgung, Wirtschaftlichkeit und Standortattraktivität künftig zusammengedacht werden müssten. Dafür brauche es klare Rahmenbedingungen, Transparenz bei Entwicklungskosten – und ein stärkeres Bekenntnis zur Liefertreue von Unternehmen.
Laurent Muschel, der amtierende Generaldirektor der Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA) der EU-Kommission, betonte, dass in schwierigen Zeiten wie dem Ukraine-Krieg und den gesundheitlichen Herausforderungen durch den Klimawandel eine globale Reaktion erforderlich ist, insbesondere bei Ausbrüchen von Gesundheitskrisen.
Dr. Thomas Steffen, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium (BMG), hob hervor, dass wichtige Ziele in der Gesundheitspolitik die Stärkung der WHO und der europäischen Autonomie seien. In Krisenzeiten sei es entscheidend, Beständigkeit zu wahren und optimistisch zu bleiben. Er sieht Krisen auch als Chancen für die Weiterentwicklung der EU, die sich in der Vergangenheit in solchen Zeiten stets gestärkt habe. Für die Bewältigung zukünftiger Krisen müsse auch eine entsprechende Finanzierung bereitgestellt werden. Die europäische Zusammenarbeit, wie bei der Impfstoffbeschaffung während der Pandemie, sei entscheidend.
Abschließend wies er darauf hin, dass es in Krisenzeiten wichtig sei, neue Partnerschaften zu finden, auch wenn man alte verliert. Er forderte die Industrie auf, Lieferketten zu differenzieren und mit Drittstaaten zusammenzuarbeiten.
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