Wie weit darf Meinungsfreiheit gehen? Christopher Hummel aus Bayern hatte im Münchner Merkur die niederländischen Versender als „Schmarotzer unseres Systems“ bezeichnet und auf nicht gezahlte Steuern verwiesen. Shop Apotheke ging gegen den Inhaber der Michaeli-Apotheke in Gaißach vor und konnte sich im zweiten Anlauf durchsetzen: Nachdem das Landgericht München II noch zugunsten des Apothekers entschieden hatte, wurden ihm seine Äußerungen jetzt vom Oberlandesgericht (OLG) untersagt. Denn im Grunde gehe es ihm nur ums eigene Geschäft.
Laut Beschluss erfolgten die angegriffenen Äußerungen des Apothekers im Rahmen einer „geschäftlichen Handlung“ gemäß Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). „Aufgrund einer Würdigung der gesamten Umstände dienten die angegriffenen Äußerungen vorrangig der Förderung des eigenen Absatzes des Antragsgegners“, heißt es im Beschluss des OLG. Dies sei auch vorrangig gegenüber etwaigen ideellen Aspekten.
Das Interview wurde im Lokalteil des Merkur veröffentlicht; der Kreis der angesprochenen Leserschaft sei damit im Wesentlichen deckungsgleich zur potenziellen Kundschaft des Apothekers, so das OLG. „Die Förderung des eigenen Absatzes liegt bereits vor diesem Hintergrund sehr nahe.“ Hinzu komme, dass er selbst im Interview einen engen lokalen Bezug herstelle, indem er etwa in seiner ersten Antwort auf die „ganzen Leerstände“ in Bad Tölz und Lenggries verweise und so den Bogen zu den Apotheken schlage, die nun das gleiche Problem hätten.
Ein weiteres Beispiel laut OLG: In seiner letzten Antwort hatte der Apotheker argumentiert, dass man bei einem Kind mit hohem Fieber nicht warten könne, „bis nach ein bis zwei Tagen das Päckchen Fiebersaft vom holländischen Onlinehändler in Bad Tölz angekommen“ sei.
Dieser enge lokale Bezug wird laut OLG nochmals dadurch hervorgehoben, dass er im Interview als „Gaißacher Apotheker“ bezeichnet und auf einem Foto prominent in seiner Apotheke in Arbeitskleidung gezeigt wird.
„Auch wenn der Antragsgegner nicht wörtlich dazu aufruft, vor Ort – und damit auch in seiner Apotheke – zu kaufen, sondern an zwei Stellen ausführt, die Menschen sollten sich nochmal überlegen, ob das [der Kauf bei Online-Apotheken] ‚wirklich ratsam‘ sei, da die Ersparnis nur kurzfristig sei, werden die Interviewäußerungen des Antragstellers insgesamt vom angesprochenen Verkehr eindeutig als Appell verstanden, vor Ort zu kaufen“, so das OLG.
Selbst die Redakteurin habe dies wohl so verstanden, da sie im einleitenden Teil des Interviews ausführe, der Apotheker appelliere „an die Bürger, vor Ort zu kaufen“. Hummel habe die Äußerungen auch nicht als neutraler Experte, sondern in seiner Rolle als Apotheker in einer stationären Apotheke getroffen.
Politische Ziele seien vor diesem Hintergrund nachrangig, so das OLG. Zwar werde an mehreren Stellen auf „die Politik“ Bezug genommen und etwa ausgeführt, er verstehe „überhaupt nicht, wieso die Politik hier keinen Einhalt“ gebiete, der Bezug verschreibungspflichtiger Medikamente von Online-Apotheken gehöre „eigentlich verboten“ beziehungsweise „die Politik [mache] die Städte und die Versorgung vor Ort einfach selbst kaputt“.
„Diese Bezugnahmen sind jedoch sehr pauschal“, so das OLG. Insbesondere sei der im Verfahren vom Apotheker hergestellte Bezug zur bevorstehenden Bundestagswahl im Interview selbst nicht im Ansatz zu erkennen. „Insbesondere ist dort auch nicht erkennbar, dass die wirtschaftliche Situation der inhabergeführten Apotheken überhaupt Gegenstand des Wahlkampfes ist und welche Parteien, welche Positionen zu dieser Thematik vertreten.
Da das Interview von seinem Gesamteindruck her lokal zugeschnitten sei, erscheine ein „Einschalten in den politischen Diskurs vor der Bundestagswahl [...] allenfalls ein Randaspekt“.
Die Bezeichnung der Versender als „Schmarotzer unseres Steuersystems“ sei eine wettbewerbswidrige Herabsetzung eines Mitbewerbers, so das OLG. Die auch auf Shop Apotheke bezogene Äußerung sei geeignet, deren Ansehen und Wertschätzung erheblich zu beeinträchtigen. Auch wenn die Versandapotheke nicht namentlich genannt werde, sei sie als Marktführer der Versandapotheken mit Sitz in den Niederlanden „aufgrund ihrer umfangreichen Werbemaßnahmen auf dem deutschen Markt und der damit einhergehenden hohen Bekanntheit in Deutschland“ für Leserinnen und Leser ohne weiteres individualisier- und identifizierbar.
Auch sei der Vorwurf schwerwiegend: „Gerade im Bereich des Gesundheitswesens sind die Akteure auf einen untadeligen Ruf auch in ihren finanziellen Angelegenheiten angewiesen. Der Erwerb von Medikamenten und anderen die Gesundheit betreffenden Waren ist in besonderem Maße mit der Inanspruchnahme von Vertrauen in den Vertragspartner verbunden. Der mit der Verwendung des Begriffs ‚Schmarotzer‘ verbundene Vorwurf, man nutze das Steuersystem in besonders verwerflicher und unredlicher Weise, ist geeignet, den erforderlichen untadeligen Ruf erheblich zu beschädigen und Vertrauen massiv zu zerstören.“
Das Grundrecht auf Meinungsäußerung werde durch das Verbot nicht verletzt: „Im Falle von herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, tritt die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück.“
Zwar bestehe ein „erhebliches öffentliches Interesse“; auch erlaube es die Meinungsfreiheit, zuzuspitzen und in gewissem Umfang zu übertreiben und die „Botschaft“ besonders hervorzuheben. Gleichzeitig sei aber auch zu beachten, dass der Vorwurf nicht mit zutreffenden Tatsachenbehauptungen unterlegt sei. „Die Bezeichnung als ‚Schmarotzer‘ erweist sich vor diesem Hintergrund als grob unsachlich und nicht geeignet, das erhebliche öffentliche Interesse zu befriedigen. Solche unzutreffenden Informationen sind für die angesprochene Leserschaft nicht ‚nützlich‘“.
Und dann gehe es noch um Konkurrenzaspekte: „Ist das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb betroffen, so ist es gerechtfertigt, geschäftlichen Zwecken dienende Meinungsäußerungen strenger zu bewerten als Äußerungen, die nicht den lauterkeitsrechtlichen Verhaltensanforderungen, sondern lediglich dem allgemeinen Deliktsrecht unterliegen.“
Ohnehin seien verschiedene Aussagen irreführend. Unwahr sei die Behauptung, bei den Versendern falle die Mehrwertsteuer weg. Auch wenn womöglich Einkaufsvorteile durch den niedrigeren Steuersatz auf Arzneimittel entstünden, sei die Aussage, die in den Niederlanden ansässigen Versender würden keine 19 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen, unzutreffend.
Dasselbe gilt laut OLG beim Thema Gewerbesteuer. Auch wenn in den Niederlanden keine Gewerbesteuer im Sinne des deutschen Rechts existiere, verstehe der durchschnittlich informierte Leser die Aussage dahingehend, dass die Gewerbesteuer für die Vor-Ort-Apotheken eine erhebliche Belastung sei, während die niederländischen Versandapotheken nichts Vergleichbares zu tragen hätten. Dies sei jedoch unzutreffend: Wie Redcare vorgetragen habe, hänge die Steuerbelastung eines Unternehmens von der Gemeinde ab, in der das Unternehmen seinen Sitz habe. Zudem sei die Gewerbesteuer für Apotheker wirtschaftlich kaum nachteilig, weil die Gewerbesteuer nach § 35 EStG auf die zu zahlende Einkommensteuer angerechnet werden könne. Selbst bei Hebesätzen bis annähernd 400 Prozent könne regelmäßig noch eine vollständige Entlastung von der Gewerbesteuer erreicht werden.
Und schließlich wurden auch die Aussagen zur Beratung moniert: Selbst wenn die Beratung durch Versender nicht mit der Beratungssituation vor Ort in einer Apotheke zu vergleichen sei – rechtfertigten die von Redcare im Prozess aufgezeigten Beratungsangebote nicht die pauschale und undifferenzierte Behauptung, es gebe „keine Beratung mehr und keinen Apotheker, der nochmal drüberschaut, ob sich das Medikament mit den anderen verträgt“. Solche unzutreffenden Pauschalierungen seien auch nicht geeignet, einen Unterschied aufzuzeigen.
„Nach diesen Grundsätzen kommt den irreführenden Aussagen des Antragsgegners geschäftliche Relevanz zu. Sie sind geeignet, Leser des streitgegenständlichen Interviews zu veranlassen, nicht mehr in Online-Apotheken, wie der der Antragstellerin, sondern in Vor-Ort-Apotheken, wie der des Antragsgegners einzukaufen“, so das OLG.