Zur Behandlung in die Arztpraxis, mit dem Rezept in die Apotheke – die Telemedizin soll solche traditionellen Versorgungspfade durchbrechen, wie der scheidende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gerne betont. In der Branche herrscht Goldgräberstimmung, auch Drogerie- und Supermarktketten wittern ihre Chance. Mit Boxen, in denen Videosprechstunden stattfinden, will das Start-up Medivise neue Möglichkeiten schaffen, auch für Apotheken. Hinter dem Projekt stehen bekannte Köpfe.
Medivise ist ein Start-up aus Berlin, das eine Box entwickelt hat, in der Videosprechstunden stattfinden können. Das System ist modular aufgebaut, je nach Bedarf sind auch Diagnosegeräte verbaut oder es kann neben dem Patienten eine MTA mit am Gespräch teilnehmen. Es gibt Modelle für den Einsatz innerhalb von Gebäuden oder auch im Freien.
Laut Geschäftsführer Dr. Sven Jansen kann Medivise eine Lösung für ländliche Regionen sein, wo Engpässe in der Infrastruktur bestehen und teilweise auch kein Arzt mehr da ist. Gleichzeitig sieht er viele weitere Einsatzmöglichkeiten – etwa für MVZ, Kliniken und Pflegeeinrichtungen, aber auch für Apotheken, Supermärkte oder Drogerien. Auch Unternehmen oder Hotels könnten eine Box aufstellen und Videosprechstunden anbieten, genauso wie Flughäfen, Bildungseinrichtungen oder die Bundeswehr.
Apotheken seien geradezu prädestiniert, um eine solche Box zu betreiben, sagt Jansen. „Bei den Apotheken sehen wir derzeit das größte Interesse, weil sie diese pharmazeutische Dienstleistung gerne in ihre Nähe bringen wollen. Denn als Betreiber einer solchen Box kann man sich am Markt noch einmal ganz anders positionieren.“ Der frühere Noventi-Vorstand wurde erst Anfang April als Geschäftsführer an Bord geholt, um die erforderlichen Kontakte in die Branche, aber auch zu anderen Interessenten im In- und Ausland zu knüpfen.
Tatsächlich läuft das erste Pilotprojekt aber in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), für die Medivise laut Jansen den Kindernotdienst abbilden soll. „Parallel arbeiten wir gemeinsam mit einer Universitätsklinik daran, die Notaufnahme zu entlasten.“ Laut Jansen wird eine Stehle aufgebaut, an der man als Patient eine „Triage“ durchläuft, sodass man bei kleineren Beschwerden am Ende einen Termin in der Box buchen kann.
„Die ersten Boxen gehen tatsächlich Ende April an den Start, das wird das Modellprojekt mit der KV sein“, so Jansen. „Kurz darauf folgen dann die Universitätsmedizin und einige Kliniken im Süden von Deutschland – und auch der erste Anwendungsfall in einem Supermarkt.“
Einen solchen Testlauf soll es laut „Lebensmittel Praxis“ mit der Einkaufsgenossenschaft Tante Enso geben, angeblich in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Auch mit Kaufland laufen dem Vernehmen nach Gespräche, und auch die Drogeriekette dm sucht wohl nach Lösungen, um Videosprechstunden in den Filialen anbieten zu können.
Laut Jansen ist Medivise nicht nur eine Box, sondern vielmehr eine „Plattform“, die ein Gesamtpaket anbietet und die unterschiedlichen Gewerke zusammenbringt. So läuft die Videosprechstunde über Arztkonsultation, die Anbindung an die Telematikinfrastruktur (TI) läuft über den Partner eHealth-Connect (EHC).
Das Netzwerk zeigt sich auch in der Gesellschafterstruktur: Zu den Gründern gehören auf der einen Seite drei Unternehmer aus Schorndorf: Rolf Gerlach (COO) und Elvis Leko (Marketing) vom Büroeinrichter New Work Office sowie Frank Skrzypczyk (IT). Auf der anderen Seite stehen Tobias Leipold (CSO) und Dr. Hannes Kern, Fachanwalt aus Stuttgart (Wuertenberger Rechtsanwälte); beide sind auch Gesellschafter bei EHC.
Leipold ist ausgewiesener Experte für Digital Health; er hatte jahrelang eHealth-Tec (EHT) geleitet: Das Tochterunternehmen von Zur Rose (heute DocMorris) hatte wichtige Technologien für das E-Rezept entwickelt. Danach hatte er vorübergehend für CGI gearbeitet, bevor er erst Apocourier und im November schließlich EHC gründete.
Weitere Gesellschafter bei EHC sind Thomas Rausch, ebenfalls vormals von EHT, sowie Nana Lohmanns (ehemals Shop Apotheke) und die Firma eHealth Experts (EHX), an der wiederum der Abrechnungsdienstleister Opta Data beteiligt ist.
Fakt ist: Die Partner haben ihre Hausaufgaben gemacht: Die Technologie ist laut Jansen über offene Schnittstellen vollständig in die TI integrierbar und damit „Gematik-fähig“. Erweiterungen wie E-Rezept, elektronische Patientenakte (ePA) sowie digitale Gesundheits- und Pflegeanwendungen (DiGA/DiPA) ließen sich ebenso einbinden wie zusätzliche Services etwa aus dem Labor- oder Optikbereich.
Zudem erfülle man bereits die Anforderungen nach dem Bundesmantelvertrag; als Pionier in diesem Bereiche schaffe man damit eine „nachhaltige digitale Infrastruktur für medizinische Einrichtungen“.
Und wie finanziert sich das Ganze? „Die Box ist aus unserer Sicht nur die Grundlage für die telemedizinische Betreuung. Das heißt, wir verdienen nicht an der Box, sondern an dem, was in der Box passiert“, so Jansen. „Der Arzt hat Pauschalen, die er im Rahmen der Telemedizin abrechnen kann, und daran partizipieren wir zu einem kleinen Teil. Umgekehrt bekommt der Arzt durch uns die Möglichkeit, an der telemedizinischen Versorgung teilzunehmen. Im Grunde ist es also ein Geben und Nehmen.“
Mehrere hundert Boxen sollen bis Ende kommenden Jahres am Start sein. Frisches Geld für die ehrgeizigen Expansionspläne wurde auch gerade eingesammelt. Als Investor ist der Bremer Anwalt und Windparkbetreiber Dr. Klaus Meier seit Kurzem bei Medivise an Bord.