2030 blicken Experten zurück auf eine Zeit, in der die Kippung der Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente bei Versendern und die zunehmende Digitalisierung die Apothekenlandschaft grundlegend veränderten. Aus Sicht vieler war genau das der Auslöser für das langsame Verschwinden der lokalen Apotheken – eine Entwicklung, die schließlich eine fast dystopische Versorgungssituation entstehen ließ.
Wir schreiben das Jahr 2030. Ein grauer Schleier liegt über der trostlosen Fußgängerzone im niedersächsischen Vechta. Die Innenstadt wirkt verlassen, schmutzig, als hätte sie längst aufgegeben. Wo früher Kundengespräche stattfanden, kleben heute QR-Codes in Schaufenstern, die längst nichts mehr verkaufen, sondern nur auf den Online-Shop aufmerksam machen wollen.
Joachim-Karsten von Beutelsberg steigt wie jeden Morgen aus dem Bus. Öffis – der Umwelt zuliebe. Für ihn wirkt das wie Hohn, wenn er durch die verdreckte Leere geht, die einmal seine Stadt war. Er ist auf dem Weg zur letzten verbliebenen Apotheke im Umkreis von 50 Kilometern – seiner eigenen.
Wer heute noch zu ihm kommt, ist entweder völlig verloren im System oder wurde von den Versendern aus irgendeinem Grund nicht mehr aufgenommen. Nach einem weiteren Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) – wann genau, weiß Beutelsberg selbst nicht mehr – sollen die Stammkunden geschlossener Apotheken sich bei den Versendern registrieren. Die sollen die Versorgung in vollem Umfang sichern. Angeblich.
Während er zu seinem Arbeitsplatz schlendert, läuft in seinen Gedanken ein Best-of der Apothekenkultur, Staffel 2025, der Anfang vom Ende. Damals, als der BGH urteilte, dass Preisbindung für Versender einfach nicht mehr zum Zeitgeist passt. Wettbewerb, Versorgungssicherheit, Marktöffnung – klingt auf dem Papier wie Fortschritt. In Wirklichkeit: Startschuss für das große Apothekensterben. Ach, nein, falsch erinnert: Das lief da ja schon auf Hochtouren. 2025 war die Apothekenzahl das erste Mal unter 17.000 in der Bundesrepublik gefallen – eine Zahl, von der man heute nur träumen möchte.
Die Reste dieses Kahlschlags kleben noch an den Schaufenstern. Halb abgerissene Plakate, leerstehende Läden und abgewanderte Fachkräfte, die sich ihre Taler heute ganz anders verdienen. PTA Jörn Schröder-Wankelmeyer füllt Fritteusenöl in Wannen statt Rezepturen in Kruken. Daneben steht Franziska von Klippenstein mit ihrer Foodtruck-Frikadelle – der Kampf um die besten Standorte ist geblieben, nur das Sortiment ist jetzt cholesterinhaltiger.
Statt diskretem Kundenservice dominieren heute 1000-Lumen-LED-Displays das Bild – grell, laut, unnachgiebig. Sie leuchten so penetrant, als wollten sie die letzten Restzweifel aus den Augen brennen oder wenigstens das Rückgaberecht. Mittendrin steht Frau Dr. Irmtraut Lange, früher Apothekerin, heute angestellt bei einem Versandhandelsriesen, mit Scannerpistole im Anschlag. Viele Konzepte sind gescheitert, doch der Flaschenpfand hat alles überdauert. Ihre Promotion hat sie noch – damit scannt sie heute Promotionsware. Hätte sie vor fünf Jahren auch nicht gedacht.
Ein paar Schritte weiter: Schönheitsklinik, Express-Treatments, ästhetische Korrekturen to go. PTA Heidi Neumann-Brockstedt arbeitet jetzt mit Botox statt Beratung. Und PKA Ulrike Fischer-Hinkel sitzt immer noch vor einem Warenwirtschaftssystem – allerdings bei einem globalen Logistikunternehmen. Die Paketmengen eskalieren in 2030 weiter sinnlos aus sich heraus, und sie versucht – mit vielen anderen Kollegen – das Chaos zu bändigen.
Einige Passanten nicken Beutelsberg zu, andere schauen weg, als sei seine Anwesenheit ein ungewolltes Mahnmal der Vergangenheit. Noch gibt es ihn, den letzten Aufrechten am HV: Beutelsbergs Apotheke, ganz am Rand der Realität – und der Gesellschaft.
Doch bevor er seinen Zielort erreicht, beobachtet der Apothekeninhaber eine Szene, die ihm mittlerweile immer wieder begegnet: Aus einer dunklen Seitengasse tritt ein Mann mit zerzauster Frisur, fiebrigem Blick und windiger Umhängetasche. Für alle anderen ist er nur ein Schatten, den man unter dem Namen Schlehmil kennt. Früher Kollege, heute flüsternder Untergrundversorger mit Spezialgebiet Engpasspräparate. Er hat schon oft versucht, Stammkundin Lisbeth Linde zu überzeugen – doch sie blieb Beutelsberg bislang treu.
Diesmal nähert er sich ihr wieder, ein schiefes Grinsen im Gesicht. „Hey, du! Ja, genau du! Schmerztabletten, Hustensaft, Nasenspray – alles da. Nur kaufen, keine Fragen!“ Linde bleibt freundlich, aber bestimmt: „Danke, ich bleibe bei Herrn Beutelsberg. Der kennt mich, berät mich.“ Der gefallene Apotheker blickt sich um, verschwindet aber schließlich wieder in den Schatten. Der Kampf um die Kundschaft ist noch nicht vorbei.
Beutelsberg sieht das – und fühlt, wie seine Welt noch kleiner wird.
Tatsächlich befindet sich die Apothekenzahl nach wie vor im Sinkflug: Ende Juni 2025 waren es 16.803, 217 weniger als Ende 2024. Schließungen überwiegen deutlich gegenüber Neueröffnungen. Hauptgründe sind Fachkräftemangel, wirtschaftlicher Druck und fehlende Nachfolger. Eine Trendwende ist nicht in Sicht.
Außerdem müssen Apotheken ab Oktober die Nutzung der elektronischen Patientenakte nachweisen, sonst gibt es Kürzungen bei der TI-Pauschale. Sie sind dann verpflichtet, ihre digitale Ausstattung zeitnah zu dokumentieren.
Markus Oelze, stellvertretender Vorsitzender des Apothekerverbands Mecklenburg-Vorpommern, hat seine Filiale in Tutow wegen steigender Kosten und sinkender Erträge schweren Herzens geschlossen; auch, wenn der Standort von Anfang an schwierig war. Das Personal arbeitet jetzt in seiner Hauptapotheke weiter.
„Wenn ich die Rechnung online über das Portal holen muss, brauche ich einen extra Buchhalter“, kritisierte in dieser Woche Apotheker Norbert Peter aus Berlin. Er beklagt den großen zeitlichen Mehraufwand durch das mühsame Herunterladen von Rechnungen aus verschiedenen Großhandelsportalen und fordert eine einfachere Zustellung per E-Mail.
In diesem Sinne: Schönes Wochenende!
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