ApoRetrO – der satirische Wochenrückblick

Offener Abholer: Apotheke darf nicht schließen

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Berlin -

Aus, Schluss, vorbei: Gwendolyn zu Lichtenau kann nicht mehr. Ende Juli hat sie ihre kleine Dorfapotheke in Krähwinkel schweren Herzens geschlossen. Naja, sie versucht es zumindest: Als letzte Instanz sitzt sie noch immer in ihrem Betrieb, denn: Der letzte Abholer liegt noch im Regal. 

Seit nunmehr 36 Tagen ist die Apotheke von zu Lichtenau offiziell geschlossen. Mit 75 Jahren machte sie schweren Herzens zu, einen Nachfolger hatte sie einfach nicht finden können. Überbordende Bürokratie, Fachkräftemangel, Sondergenehmigungen: Für Interessenten wirkte das wie ein unüberwindbarer Hindernisparcours. Damit war das Schicksal des Standorts besiegelt.

In der Abschlusswoche wurde gefeiert. Stammkunden brachten Blumen, manche vergossen Tränen. Viele hatten schon Tage und Wochen zuvor bemerkt, dass etwas mit der Apothekerin ihres Vertrauens nicht stimmte. Sie wirkte sichtlich nervös, überprüfte in kurzen Abständen immer wieder penibel das Abholregal. Ständig löcherte sie ihre Angestellten, ob „er“ sich endlich gemeldet habe. Beim Kassieren hielt sie die Blicke ihrer Stammkundschaft ungewöhnlich lange fest, als könnte sich irgendwo zwischen den Pupillen der vermisste Zettel verbergen. Am liebsten wollte sie dann heinz-erhardtesk fragen: „Hast du nicht den Abholschein?“

Denn zu Lichtenau hat ein Problem. Es wiegt kaum hundert Gramm und steht seit Wochen im Abholregal. Es ist eine Hunderterpackung Citalopram, N3, kleine weiße runde Tabletten, bezahlt, verbucht, abgerechnet – und gerade dadurch unantastbar. Dass so etwas Banales ihr eines Tages den Ruhestand madig machen könnte, hätte sie nie gedacht. Nach fünfzig Jahren harter Arbeit wünscht sie sich nichts sehnlicher als zwei Wochen Teneriffa mit Vollpension, stattdessen sitzt sie im leeren Verkaufsraum und starrt auf eine Packung, als hinge daran ihr gesamtes Lebenswerk.

Nunja: Daran hängt ihr gesamtes Lebenswerk. Zu Lichtenau kann den letzten verbliebenen Backoffice-PC nicht herunterfahren, solange der Abholschein fehlt. Jeder Versuch endet in derselben Fehlermeldung – so gnadenlos wie ein Betriebssystem-Update, das man vier Wochen lang weggedrückt hat und das nun endgültig den Aufstand probt. Ihr Ruhestand hängt also an einem dünnen Stück Papier, das womöglich längst als Einkaufszettel für Milch und Butter missbraucht wurde. Der Strom ist offiziell schon abgestellt, der Computer läuft nur noch auf einem Notaggregat, das ununterbrochen röhrt wie ein alter Dieselbus beim Berganfahren.

Ein Abholschein, sie zu knechten

In ihrer Fantasie nimmt das Drama sofort Fahrt auf: Sobald der Strom ausfällt meldet sich die Krankenkasse und schaltet die Prüfungsabteilung ein, der Großhändler sperrt präventiv ihr Kundenkonto, beim Bundeskriminalamt blinkt das Stichwort Arzneimittelterrorismus auf und in Brüssel tritt der Gesundheitsausschuss zu einer Sondersitzung zusammen. Der Bildschirm flimmert weiter, als hinge die gesamte Zivilisation von diesem einen Abholschein ab.

Mittlerweile haben sie alle verlassen. Selbst die Reinemachfrau, die seit der Eröffnung 1973 jeden Freitag die Böden gewischt hatte, kündigte plötzlich: Für ein einziges Medikament noch zu putzen, das sei unter ihrer Würde. Auch das Personal hat sich längst verteilt – die einen arbeiten in Apotheken der Nachbarstädte, die anderen haben ganz den Beruf gewechselt. Der Warenwirtschaftsanbieter hat die restlichen geleasten Computer längst einkassiert, die Regale stehen leer, Staub legt sich wie eine zweite Tapete über den HV. Nur ein alter Laptop mit Windows 98 SE flimmert noch, beharrlich blinkt dort ein Sicherheitsupdate von 2002. Das hat damals noch nicht das komplette System gesperrt – zu Lichtenaus Notnagel, um erreichbar zu bleiben, falls ihr Backoffice-PC doch abschmiert.

Ganz verloren ist die Hoffnung nicht: Die Gemeinde reagierte mit einer Unterschriftenkampagne „Findet den Kunden“. 187 Bürgerinnen und Bürger haben schon unterschrieben, was ungefähr der Hälfte der Wahlbeteiligung zur letzten Bürgermeisterwahl entspricht – Ergebnis bisher: null. Auf Facebook postet Britta, die Tochter zu Lichtenaus, den Suchaufruf zwischen zwei Anzeigen, in denen sie alte Waagen und Mörser als Vintage-Deko an Selbstabholer vergibt. Während Fremde mit den Restbeständen der Apotheke durchs Dorf ziehen, wartet das Herzstück weiter auf einen Abholschein, den keiner hat.

Zu Lichtenau harrt stoisch der Dinge. Ab und zu klopft ein Irrläufer ans Schaufenster und fragt, ob die Apotheke nicht doch noch einmal aufmacht. Die Inhaberin schüttelt dann nur den Kopf, zeigt auf das Abholregal – und fragt zurück, ob die Person zufällig einen Abholschein dabeihabe.

Ärger mit Abholern

Dass Abholer in der Apotheke eine heikle Angelegenheit sind, musste eine Inhaberin in dieser Woche tatsächlich erfahren. Durch Zufall entdeckte, dass die Software seit neuerdings Woche plötzlich das Gegenscan- statt das Abrufdatum aufdruckt. Das entspricht zwar dem Rahmenvertrag, aber: „Wir wurden nicht informiert, das hat mindestens preisliche Auswirkungen für uns“, ärgerte sie sich. Sie fürchtet nun neue Retaxgefahren: Holt ein Patient seine Nachlieferung beispielsweise erst ein paar Wochen nach Bearbeitung des E-Rezepts in der Apotheke ab, wird es mit einem Datum bedruckt, an dem sich die Rabattverträge oder der Preis geändert haben oder das Rezept schon abgelaufen sein könnten. Ihr Softwarehaus gab Entwarnung.

In dieser Woche erhielt Apotheker Deniz Buchholz aus der Igel Apotheke in Erlangen eine 3500-Euro-Retax, weil angeblich eine Charge nicht übermittelt wurde, obwohl er die Abgabe dokumentiert habe. Der Bayerische Apothekerverband spricht von vielen ähnlichen Fällen und hält die Beanstandung für unbegründet. Darüber hinaus sorgte eine Softwareänderung bei ADG für Aufregung, weil statt des Abrufdatums plötzlich das Gegenscan-Datum auf E-Rezepte gedruckt wurde und Apotheken dadurch Retax-Gefahren befürchten.

Eine Apothekerin im Notdienst durch die Klappe von einem aggressiven Kunden attackiert, weil ein Reinigungsgel nicht vorrätig war. Sie konnte ihn abwehren, rief die Polizei und meldete den Vorfall der Kammer. Außerdem kam es in Hamburg kürzlich zu einem Ausbruch von Haemophilus influenzae Typ b mit 15 Infektionen und drei Todesfällen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt nun eine einmalige Hib-Impfung für gefährdete Erwachsene und Kinder ab fünf Jahren mit erhöhtem Risiko.

In diesem Sinne: Ein schönes Wochenende!

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