EuGH-Spezial

„Schreie und Flüstern“

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„Wenn ich dieser Veranstaltung einen Titel geben müsste, würde ich sie nach Ingmar Bergmanns Film 'Schreie und Flüstern' benennen. Wir haben vor allem Sorgnisse gehört, aber wenig Fakten. Vielmehr haben wir gesehen, dass die apokalyptischen Bilder nicht eintreten.“ Die EU-Kommission hatte sich mit dem Italiener Enrico Traversa ihren besten Mann für das Schlussplädoyer aufgehoben. Der Italiener wagte am Ende einer langen Verhandlung zu den Risiken der Liberalisierung noch einmal den großen Wurf für die Konzerne und forderte die Richter auf, in ihrem Urteil dezidiert darauf hinzuweisen, dass „nicht jede Kapitalgesellschaft betrügerische Zwecke verfolgt“.

Sechs Stunden zuvor hatten seine Kollegen Hannes Krämer und Emanuela Boglione auf die vorab gestellten Detailfragen des Gerichts geantwortet und versucht, das Fremdbesitzverbot als unverhältnismäßig, also durch weniger einschränkende Maßnahmen ersetzbar, und nicht zielführend zu brandmarken. So haben die Mitgliedstaaten laut Krämer keinen Beweis für den Wirkungszusammenhang erbracht, dass der Fremdbesitz zu einer Gefährdung der Verbraucher führt: Weder die Risiken des Personalabbaus noch des Drucks auf die angestellten Apotheker seien spezifisch für die Situation mit berufsfremden Inhabern.

Beiden Gefahren lässt sich laut Krämer ohnehin eher durch eine Regulierung und Kontrolle der Tätigkeiten und nicht durch Einschränkungen bei den Besitzverhältnissen begegnen. Dies seien Aufgaben, die in der genuinen Verantwortung der Mitgliedstaaten lägen. Bei Beschränkungen, die laut Krämer wie das Fremdbesitzverbot über das notwendige Maß hinausgehen, könnten sich diese daher nicht auf ihr eigenes „Kontrollversagen“ berufen.

Die Entwicklung der Marktstruktur wiederum sei Gegenstand des allgemeinen Wettbewerbsrechts, das von den nationalen und europäischen Wettbewerbsbehörden kontrolliert werde. Im Verfahren gehe es daher nicht um die Struktur der Arzneimitteldistribution, sondern um die vorgelagerte Frage des Zugangs zum Markt. Bemerkenswerterweise stellte Krämer allerdings erstmals in Aussicht, dass zumindest bestimmte Berufsgruppen unter strengen Voraussetzungen vom Besitz von Apotheken ausgeschlossen werden könnten.

Den saarländischen Behörden attestierte Krämer, dass sie - anders als die Bundesregierung - „in exemplarischer Weise Loyalität zum Gemeinschaftsrecht bewiesen“ hätten. Deren Wunsch nach einer Übergangsfrist für den Fall der Fälle wies Krämer als unbegründet zurück.

Auch Boglione wies im italienischen Fall auf mangelndes Datenmaterial der Gegenparteien hin: „Unzweifelhaft“ sei das Gewinnstreben bei berufsfremden und approbierten Apothekeninhabern gleich. „Apotheker sind keine Philanthropen, sondern Kleinunternehmer“, so die Anwältin. Als solche könnten sie theoretisch ihre Mitarbeiter einem größeren Druck aussetzen, da Arbeitgeber in Italien erst ab 15 Mitarbeitern Kündigungen begründen müssen. „Einen solchen Arbeitnehmerschutz wird es in kleinen Apotheken nicht geben.“

Boglione ging weiter ins Detail: Jede vierte italienische Apotheke firmiere unter einem Finanzierungsmodell, bei dem Geldgeber am Gewinn der Apotheken beteiligt sind. Darüber hinaus gebe es kommunale Apothekenketten in Fremdbesitz und OTC in Supermärkten mit berufsfremden Inhabern. Boglione machte sich sogar explizit für eine Vertikalisierung stark: Apotheken im Besitz von Großhändlern könnten günstigere Preise bei den Lieferanten aushandeln und an die Verbraucher weitergeben.

Ein System mit Fremdbesitz und zusätzlicher Niederlassungsbeschränkung wollte die Kommission auf Nachfrage der Richter auch nicht gelten lassen. Die Brüsseler Behörde hatte entsprechende Vertragsverletzungsverfahren gegen Spanien und Österreich eingeleitet und erklärte sich vor Gericht enttäuscht, dass sie von Spanien nach Ablauf der Frist noch immer keine Antwort auf ihr zweites Mahnschreiben erhalten habe.

Lesen Sie dazu auch: Schlussanträge am 16.12.
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Lesen Sie dazu auch: Schlagabtausch zum Fremdbesitz
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